Denn nachdem ich die Elfen vergebens unter den Blättern des Fingerhuts und der Glockenblume, unter Pilzen und altem, von Efeu umranktem Gemäuer gesucht hatte, hatte ich mich mit der traurigen Wahrheit ausgesöhnt, dass sie England wohl verlassen hätten, um in ein unbekanntes Land zu gehen, wo die Wälder noch stiller, wilder und dichter, die Menschen noch spärlicher gesät sind. Liliput hingegen und Brobdingnag waren nach meiner Überzeugung solide Bestandteile der Erdoberfläche; ich zweifelte nicht, dass, wenn ich eines Tages eine weite Reise machen könnte, ich mit meinen eigenen Augen die kleinen Felder und Häuser, die winzigen Menschen, die zierlichen Kühe, Schafe und Vögel des einen Königreichs sehen würde, und ebenso die baumhohen Kornfelder, die mächtigen Bullenbeißer, die Katzen-Ungeheuer und die turmhohen Männer und Frauen des anderen. Und doch, als ich den geliebten Band jetzt in den Händen hielt, als ich die Seiten umblätterte und in den wundersamen Bildern den Reiz suchte, welchen sie mir bis jetzt stets gewährt hatten – da war alles düster und unheimlich; die Riesen waren hagere Kobolde, die Pygmäen boshafte und scheußliche Gnomen, Gulliver ein trübseliger Wanderer in grauenhaften und gefährlichen Regionen. Ich schloss das Buch, in dem ich nicht länger zu lesen wagte, und legte es auf den Tisch neben das unberührte Stück Kuchen.
Bessie war jetzt mit dem Abstauben und Aufräumen des Zimmers fertig. Nachdem sie ihre Hände gewaschen hatte, öffnete sie eine kleine Schublade, welche mit den schönsten, prächtigsten Stoffresten von Seide und Atlas angefüllt war, und fing an, einen Hut für Georgianas neue Puppe zu machen. Dann begann sie zu singen:
»Als wir streiften durch Wald und Flur,
Vor langer, langer Zeit …«
Wie oft hatte ich dieses Lied schon gehört, und immer mit dem größten Entzücken, denn Bessie hatte eine schöne Stimme – wenigstens nach meinem Geschmack. Aber jetzt, obgleich ihre Stimme noch immer lieblich klang, lag für mich eine unbeschreibliche Traurigkeit in dieser Melodie. Zuweilen, wenn ihre Arbeit sie ganz in Anspruch nahm, sang sie den Refrain sehr leise, sehr langsam: »Vor langer, langer Zeit.« Dann klang es wie die traurigste Kadenz eines Grabliedes. Endlich begann sie eine andere Ballade zu singen, diesmal eine wirklich traurige:
»Mein Körper ist müd und wund ist mein Fuß,
Weit ist der Weg, den ich wandern muss,
Bald wird es Nacht und den Weg ich nicht find,
Den ich wandern muss, armes Waisenkind!
Weshalb sandten sie mich so weit, so weit,
Durch Feld und Wald, auf die Berg’, wo es schneit?
Die Menschen sind hart! Doch Engel so lind,
Bewachen mich armes Waisenkind.
Die Sterne, sie scheinen herab so klar,
Die Luft ist mild! Es ist doch wahr:
Gott ist barmherzig, er steuert dem Wind,
Dass er nicht erfasse das Waisenkind.
Und wenn ich nun strauchle am Waldesrand
Oder ins Meer versink, wo mich führt keine Hand,
So weiß ich doch, dass den Vater ich find,
Er nimmt an sein Herz das Waisenkind!
Das ist meine Hoffnung, die Kraft mir gibt,
Dass Gott da droben sein Kind doch liebt.
Bei ihm dort oben die Heimat ich find,
Er liebt auch das arme Waisenkind!«
»Kommen Sie, Miss Jane, weinen Sie nicht«, sagte Bessie, als sie zu Ende war. Ebenso gut hätte sie dem Feuer sagen können »Brenne nicht!«, aber wie hätte sie denn auch eine Ahnung von dem herzzerreißenden Schmerz haben können, der mich quälte? Im Laufe des Vormittags kam Mr. Lloyd wieder.
»Wie? Schon aufgestanden?«, rief er, als er ins Kinderzimmer trat. »Nun, Bessie, wie geht es ihr denn?«
Bessie entgegnete, dass es mir außerordentlich gut gehe.
»Dann sollte sie aber fröhlicher aussehen. Kommen Sie her, Miss Jane. Sie heißen Jane, nicht wahr?«
»Ja, Sir. Jane Eyre.«
»Nun, Sie haben geweint, Miss Jane Eyre, wollen Sie mir nicht sagen, weshalb? Haben Sie Schmerzen?«
»Nein, Sir.«
»Ach, ich vermute, dass sie weint, weil sie nicht mit Mrs. Reed spazieren fahren durfte«, warf Bessie ein.
»O nein, gewiss nicht, für solche Albernheiten ist sie doch schon zu groß.«
Das dachte ich auch, und da meine Selbstachtung durch die falsche Beschuldigung verletzt war, antwortete ich schnell: »In meinem ganzen Leben habe ich noch keine Tränen um solche Dinge vergossen. Ich hasse die Spazierfahrten. Ich weine, weil ich so unglücklich bin.«
»Schämen Sie sich, Miss!«, rief Bessie.
Der gute Apotheker schien ein wenig verwirrt. Ich stand vor ihm, und er sah mich eindringlich an. Seine Augen waren klein und grau, nicht sehr leuchtend, aber ich glaube, dass ich sie heute sehr klug finden würde. Trotz der harten Züge hatte er ein gutmütiges Gesicht. Nachdem er mich lange mit Muße betrachtet hatte, sagte er:
»Was hat Sie gestern krank gemacht?«
»Sie ist gefallen«, warf Bessie ein.
»Gefallen! Nun, das ist gerade wieder wie ein Kind! Kann sie bei ihrem Alter denn noch nicht allein gehen? Sie muss doch acht oder neun Jahre alt sein!«
»Jemand hat mich zu Boden geschlagen«, lautete meine derbe Erklärung, welche der Schmerz des gekränkten Stolzes mir eingab, »aber das hat mich nicht krank gemacht.«
Mr. Lloyd nahm bedächtig eine Prise Tabak.
Als er die Tabaksdose wieder in seine Westentasche schob, rief der laute Klang einer Glocke die Dienstboten zum Mittagessen. Mr. Lloyd wusste, was das bedeutete: »Das gilt Ihnen, Bessie«, sagte er, »Sie können hinuntergehen. Ich werde Miss Jane einige Lehren geben, bis Sie zurückkehren.«
Bessie wäre lieber geblieben, aber sie war gezwungen zu gehen, weil man in Gateshead Hall streng auf die Pünktlichkeit bei den Mahlzeiten achtete.
»Der Sturz hat Sie nicht krank gemacht? Nun, was war es dann?«, fragte Mr. Lloyd, nachdem Bessie gegangen war.
»Ich war in einem Zimmer eingesperrt, wo ein Geist umgeht – und es war schon lange dunkel.«
Ich sah, wie Mr. Lloyd lächelte und zugleich die Stirn runzelte. »Ein Geist! Was denn, sind Sie am Ende doch noch ein kleines Kind? Sie fürchten sich vor Geistern?«
»Ja, vor Mr. Reeds Geist fürchte ich mich.
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