Und vor allem darf ein Tier nie seinesgleichen unterdrücken. Schwach oder stark, schlau oder schlicht, wir alle sind Brüder. Kein Tier darf je ein anderes töten. Alle Tiere sind gleich.
Und jetzt, Genossen, will ich euch von meinem Traum der letzten Nacht erzählen. Beschreiben kann ich euch diesen Traum nicht. Es war ein Traum von der Erde, so wie sie dereinst sein wird, wenn der Mensch verschwunden ist. Doch er erinnerte mich an etwas, das ich lange vergessen hatte. Vor vielen Jahren, als ich noch ein kleines Schweinchen war, da pflegten meine Mutter und die anderen Sauen ein altes Lied zu singen, von dem sie nur die Melodie und die ersten drei Worte kannten. In meiner Kindheit hatte ich diese Melodie auch gekannt, doch seitdem ist sie mir längst aus dem Sinn gekommen. Letzte Nacht jedoch kehrte sie mir im Traum zurück. Und nicht nur das, auch die Worte des Liedes kehrten zurück - Worte, die, ich bin sicher, von den Tieren vor langer Zeit gesungen wurden und die der Erinnerung generationenlang entfallen waren. Dieses Lied, Genossen, will ich euch jetzt vorsingen. Ich bin alt und meine Stimme ist heiser, aber wenn ich euch die Melodie erst einmal beigebracht habe, werdet ihr es selbst besser singen. Das Lied heißt: ›Tiere Englands‹.«
Old Major räusperte sich und begann zu singen. Seine Stimme war, wie er selbst gesagt hatte, heiser, aber er sang doch recht ordentlich, und die Melodie war mitreißend, ein Mittelding zwischen ›Hänschenklein‹ und ›La Cucaracha‹. Die Worte lauteten:
»Tiere Englands, Tiere Irlands,
Tiere, ihr, von fern und weit,
Höret meine frohe Botschaft
Von der gold'nen Zukunftszeit.
Seid gewiß, der Tag wird kommen,
Wo der Tyrann Mensch muß geh'n,
Und auf Englands satten Fluren
Werden nur noch Tiere steh'n.
Nasenringe werden schwinden,
Das Geschirr wird abgeschnallt,
Bügel, Sporen werden rosten,
Keine Peitsche dann mehr knallt.
Unvorstellbar reiche Güter:
Korn und Gerste, Klee und Heu,
Hafer, Bohnen, Mangoldwurzeln,
Schenkt uns dieser Tag erst neu.
Leuchten werden Englands Felder,
Lauterer sein Wasser rinnt,
Lieblicher die Lüfte wehen,
Wenn der Freiheit Tag beginnt.

Diesen Tag gilt's zu erringen,
Sterben wir auch, eh er naht;
Kuh und Roß und Gans und Truthahn
Müssen säen der Freiheit Saat.
Tiere Englands, Tiere Irlands,
Tiere, ihr, von fern und weit,
Hört und kündet frohe Botschaft
Von der gold'nen Zukunftszeit.«
Das Singen dieses Liedes versetzte die Tiere in helle Aufregung. Noch fast ehe Major zu Ende gekommen war, hatten sie begonnen, es für sich allein zu singen. Sogar die dümmsten unter ihnen hatten schon die Melodie und ein paar der Worte aufgeschnappt, und was die klügeren, wie Schweine und Hunde, anlangte, so konnten die das ganze Lied in wenigen Minuten auswendig. Und dann brach, nach einigen Probeversuchen, die ganze Farm mit ungeheurer Einstimmigkeit in ›Tiere Englands‹ aus. Die Kühe muhten es, die Hunde jaulten es, die Schafe blökten es, die Pferde wieherten es, die Enten quakten es. Sie waren so begeistert von dem Lied, daß sie es gleich fünfmal hintereinanderweg sangen und es vielleicht noch die ganze Nacht hindurch gesungen hätten, wenn sie nicht unterbrochen worden wären.
Unglücklicherweise weckte der Spektakel Mr. Jones auf, der aus dem Bett sprang, weil er mit Sicherheit glaubte, daß sich ein Fuchs auf dem Hof herumtrieb. Er griff sich die Flinte, die immer in einer Ecke seines Schlafzimmers lehnte, und feuerte eine Ladung Schrot vom Kaliber 6 in die Dunkelheit hinaus. Die Schrotkörner gruben sich in die Scheunenwand, und die Versammlung zerstreute sich eilends. Ein jedes floh zu seinem Schlafplatz. Das Federvieh hüpfte auf seine Stangen, die anderen Tiere legten sich ins Stroh, und im Nu war die ganze Farm eingeschlafen.
Kapitel II
Drei Nächte später entschlief Old Major sanft. Sein Leib wurde im hintersten Winkel des Obstgartens begraben.
Das geschah Anfang März. Während der nächsten drei Monate gab es viel geheime Aktivitäten. Majors Rede hatte den intelligenteren Tieren auf der Farm zu einer völlig neuen Lebensanschauung verholfen. Sie wußten nicht, wann die von Major vorausgesagte Rebellion stattfinden würde, sie hatten keinerlei Anlaß zu glauben, daß es noch zu ihren Lebzeiten geschehen würde, doch sie erkannten deutlich ihre Pflicht, sich darauf vorzubereiten.
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