Ein Herr, der mit uns
gegangen war, um das Phänomen zu betrachten, entwickelte bei dieser
Gelegenheit eine Theorie über Elektrizität und Magnetismus, die
zugleich neu und fesselnd war. Alles, was er sagte, stellte
Kornelius Agrippa, Albertus Magnus und Paracelsus, die Helden
meines Geistes, sehr in den Schatten. Und diese Niederlage meiner
Helden nahm mir alle Lust an den gewohnten Studien. Es schien mir,
als würde und könnte man nie etwas wissen. Das, was so lange meinen
Geist in Bann gehalten hatte, kam mir auf einmal lächerlich vor. In
einer der Launen, denen wir gerade in der Jugend besonders
unterworfen sind, warf ich die ganze Naturphilosophie und das, was
damit zusammenhing, als unfruchtbar und widersinnig auf die Seite.
Ich empfand heftigen Ekel vor dieser Scheinwissenschaft, die nicht
einmal imstande war, uns auch nur bis zur Schwelle wahren Wissens
zu bringen. In diesem Zustande verlegte ich mich auf die
Mathematik, die, auf festen Füßen stehend, allein meiner Beachtung
würdig schien.
Wie seltsam ist doch unsere Seele konstruiert und an wie dünnen
Fäden hängt Glück oder Verderben. Wenn ich zurückdenke und mir Rechenschaft gebe über die merkwürdige
Änderung meiner Neigung, kommt es mir vor, als habe damals mein
Schutzengel noch einen letzten Versuch gemacht, mich dem drohenden
Unheil zu entziehen, das sich über mir zusammenballte. Jedenfalls
hatte sein Bemühen Erfolg, denn eine ungewohnte Ruhe der Seele und
eine tiefe Befriedigung kam über mich, als ich von den in letzter
Zeit mich quälenden Studien abließ; ja, ich lernte sie sogar als
etwas Böses verachten.
Mein Schutzengel hatte sein Möglichstes getan, aber auf die
Dauer war es doch umsonst. Das Schicksal war mächtiger: das
Schicksal, das meinen schrecklichen Untergang beschlossen
hatte.
Kapitel 3
Als ich siebzehn Jahre alt geworden war entschlossen sich meine
Eltern, mich auf die Universität Ingolstadt zu schicken. Ich wäre
ganz gern auf der Genfer Hochschule geblieben, aber mein Vater
hielt es für nützlicher, wenn ich, um meine Erziehung zu vollenden,
auch mit den Sitten und Gebräuchen anderer Länder vertraut würde.
Der Tag meiner Abreise wurde festgesetzt; aber ehe dieser herankam
traf mich das erste Mißgeschick meines Lebens, das mich ergriff wie
ein Omen meines kommenden Unglücks.
Elisabeth war an Scharlach erkrankt und schwebte in der
äußersten Lebensgefahr.
Wir hatten uns alle Mühe gegeben, meine Mutter zu überzeugen,
daß die Pflege der Kranken eine große Gefahr für sie bedeute.
Anfangs hatte sie sich unseren Bitten gefügt; als sie aber merkte,
daß das Leben ihres Lieblings ernstlich bedroht war, ließ sie sich
nicht mehr abhalten. Sie wich nicht vom Krankenbette und ihre Liebe
siegte über die tückische Krankheit. Elisabeth war gerettet, aber
an ihrer Stelle ergriff das Fieber die treue Pflegerin. Am dritten
Tage mußte sich die Mutter legen. Bei den ersten beunruhigenden
Symptomen wurde der Arzt beigezogen, aus
dessen ernstem Antlitz wir das Schlimmste errieten. Aber selbst auf
dem Totenbette blieb diese beste der Frauen tapfer und gütig. Sie
legte Elisabeths Hände in die meinen und sagte: »Liebe Kinder! Wie
habe ich mich immer gefreut, euch einmal vereinigt zu sehen! Mir
ist es ja wohl nicht mehr beschieden, das zu erleben, aber es soll
wenigstens der Trost eures Vaters sein. Nun mußt du, liebste
Elisabeth, meine Stelle bei meinen kleineren Kindern vertreten. Es
tut mir weh, von euch gehen zu müssen, von dem Glück, das mir
zuteil wurde. Aber ich will mich nicht diesen Gedanken hingeben;
ich will versuchen, dem Tod froh ins Auge zu sehen und mich damit
trösten, daß wir uns ja drüben alle wieder sehen werden.«
Sie starb ruhig und gelassen; selbst der Würger Tod war nicht
imstande gewesen, die Liebe aus ihren Zügen zu bannen. Ich brauche
Ihnen wohl nicht zu sagen, wie tief wir alle litten, wie öde es in
uns war und welche Traurigkeit auf unseren Gesichtern sich
ausdrückte. Lange konnten wir es nicht fassen, daß die Frau, die
wir alle Tage sahen, nun von uns gegangen sei auf immer, daß ihre
lieben Augen uns nun nicht mehr freundlich anblicken, ihre traute
Stimme nicht mehr an unser Ohr tönen sollte. Das sind so die
Gedanken der ersten Tage. Wenn dann aber die Zeit in ihrem Laufe
uns belehrt, daß wirklich alles so ist, dann beginnt der
eigentliche, tiefe Gram. Aber wem hat der grausame Tod nicht schon
etwas Liebes entrissen und warum soll ich die Schmerzen
beschreiben, die jeden schon getroffen haben oder noch treffen
müssen? Schließlich kommt die Zeit, da das Leid stiller wird und da
man das Lächeln, das sich auf unsere Lippen schleicht, nicht mehr
verbannt, wenn es einem auch vorher undenkbar schien, daß das je
noch der Fall sein könnte. Meine Mutter war tot, aber wir hatten
Pflichten, die wir erfüllen mußten; wir, die Übriggebliebenen
durften uns ja glücklich schätzen, daß der Würger wenigstens von
dem einen Opfer seine kalte Hand zurückgezogen hatte.
Für meine Abreise nach Ingolstadt, die durch die Verhältnisse
aufgeschoben war, wurde nun ein neuer Zeitpunkt
festgesetzt. Es gelang mir, von meinem
Vater einen Aufschub von etlichen Wochen zu erlangen. Es wäre mir
wie ein Sakrileg erschienen, so schnell die Ruhe des Trauerhauses
mit dem sprudelnden Leben da draußen zu vertauschen. Und dann
wollte ich den Anblick derer nicht missen, die mir geblieben waren;
vor allem aber war es mir darum zu tun, meine süße Elisabeth
einigermaßen getröstet zu sehen.
Sie verstand es, ihr eigenes Leid zu verbergen und uns alle
aufzurichten. Sie nahm das Leben ernst und kam ihren Pflichten
tapfer und treu nach. Sie widmete sich ganz denen, die sie als
Vater und Geschwister lieben gelernt hatte.
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