Er müßte hoffen, daß
der schwache Lebensfunke, den er entzündet, sich selbst überlassen,
wieder erlösche; daß das Ding, dem er eine Art Leben eingehaucht,
wieder in die Materie zurücksinke; und er müßte einschlafen in dem
Gedanken, daß das Grab sich wieder schlösse über dem häßlichen
Leibe, den er als Triumph des Lebens bisher betrachtet hatte. Er
schläft, aber nicht tief; er öffnet plötzlich die Augen – an seinem
Bette steht das Ungeheuer, hält die Vorhänge auseinander und starrt
auf ihn mit seinen gelben, wässerigen, aber aufmerksamen Augen.
Auch ich öffnete erschreckt die Lider. Die Idee hatte mich
derart gefangen genommen, daß es mich eiskalt überlief und ich
vergebens mich bemühte, das gespenstische Bild meiner Phantasie
wieder mit der Wirklichkeit zu vertauschen. Ich erinnere mich noch
heute ganz genau an das dunkle Zimmer mit seiner
Täfelung, auf der sich durch die
geschlossenen Gardinen fahl das Licht des Mondes spiegelte. Ich
wußte, daß draußen spiegelglatt der See lag und die Alpen ihre
Häupter starr zum Himmel erhoben; aber trotzdem konnte ich meines
Phantasiegebildes nicht ledig werden. Ich mußte versuchen an
Anderes zu denken. Da fiel mir meine Gespenstergeschichte ein,
meine unglückselige Gespenstergeschichte! Oh könnte ich doch eine
erfinden, die meine Leser ebenso erschüttern würde wie mich das
Gesicht jener Nacht!
Wie ein Licht flammte es in mir auf. Ich habe sie! Was mich
erschreckte, soll auch andere erschrecken. Ich habe nur den
unheimlichen Halbtraum jener Nacht zu beschreiben.
Anfangs dachte ich daran, nur eine kurze Erzählung zu schreiben.
Aber dann fesselte die Idee mich so stark, daß ich sie weiter
ausgesponnen habe. Und nun, du unheimliches Kind meiner Muse, gehe
hinaus und wirb dir Freunde!
London, 15. Oktober
1831.
M. W. S.
An Frau Saville, London
St. Petersburg, den
11. Dez. 18..
Es wird Dir Freude bereiten, zu hören, daß kein Mißgeschick den
Anfang des Unternehmens betroffen hat, dessen Vorbereitungen Du mit
solch trüben Ahnungen verfolgtest. Ich bin gestern hier angekommen,
und das Erste, was ich tue, ist, meiner lieben Schwester
mitzuteilen, daß ich mich wohl befinde und daß ich mit immer
wachsenden Hoffnungen dem Fortgang meines Unternehmens
entgegensehe.
Ich bin ein gut Stück weiter nördlich als London, und wenn ich
so durch die Straßen Petersburgs schlendere, pfeift mir ein eisiger
Wind um die Wangen, der meine Nerven erfrischt und mich mit Behagen
erfüllt. Begreifst Du dieses Gefühl? Dieser Wind, der aus den
Gegenden herbraust, denen ich entgegenreise, gibt mir einen
Vorgeschmack jener frostigen Klimate. Dieser Wind trägt mir auf
seinen Flügeln Verheißungen zu und meine Phantasien werden
lebhafter und glühender. Ich versuche vergebens, mir klar zu
machen, daß der Pol eine Eiswüste sein muß; immer stelle ich ihn
mir als eine Stätte der Schönheit und des Entzückens vor. Dort,
Margarete, geht die Sonne nicht unter; ihre mächtige Scheibe
streift am Horizont und verbreitet ein mildes Licht. Was dürfen wir
erwarten von diesem Lande der ewigen Sonne? Vielleicht entdecke ich
dort den Sitz jener geheimnisvollen Kraft, die der Magnetnadel ihre
Richtung verleiht, und bin imstande, die Unrichtigkeit so mancher
astronomischen Beobachtung und Hypothese zu beweisen. Meine
brennende Neugierde will ich mit dem Anblick von Ländern
befriedigen, die nie eines Menschen Auge noch sah, Erde werde ich
betreten, die nie vorher eines Menschen Fuß betrat. All das
erscheint mir so verlockend, daß ich Not und Tod nicht fürchte und
die mühselige Reise mit den freudigen Gefühlen eines Kindes
antreten werde, das mit seinen Gespielen das erste Mal ein Boot
besteigt, um den benachbartenFluß zu befahren.
Und selbst wenn alle meine Vermutungen mich täuschen sollten, werde
ich wenigstens darin ein erhabenes Ziel finden, eine Passage nahe
dem Pole zu jenen Ländern zu entdecken, deren Erreichung heute noch
Monate in Anspruch nimmt, oder dem Geheimnis des Magnetismus näher
zu kommen, was ja doch nur durch eine Reise geschehen kann, wie ich
sie unternehmen will.
Diese Betrachtungen haben die ganze Rührung verfliegen lassen,
die sich meiner bei Beginn dieses Briefes bemächtigt hatte, und ich
glühe vor himmelstürmendem Enthusiasmus. Nichts vermag der Seele so
sehr das Gleichmaß zu verleihen als eine ernste Absicht, ein fester
Punkt, auf den sich das geistige Auge richten kann. Diese
Expedition war schon ein Wunsch meiner frühen Jugendjahre. Ich habe
mit heißem Kopfe die mannigfachen Beschreibungen der Reisen
gelesen, die die Entdeckung einer Passage durch die den Pol
umgebenden Meere nach dem nördlichen Teile des Stillen Ozeans
bezweckten. Du erinnerst Dich vielleicht, daß solche
Reisebeschreibungen den Hauptbestandteil der Bibliothek unseres
guten Onkels Thomas bildeten. Jene Werke waren mein Studium, dem
ich Tage und Nächte widmete, und je mehr ich mich mit ihnen
befreundete, desto tiefer bedauerte ich es, daß mein Vater auf dem
Sterbebett meinem Onkel das Versprechen abgenommen hatte, mich
nicht Seemann werden zu lassen.
Sechs Jahre sind es nun, daß ich den Plan zu meinem jetzigen
Unternehmen faßte. Ich erinnere mich noch, als sei es gestern
gewesen, der Stunde, in der ich mich der großen Aufgabe widmete.
Ich begann damit, meinen Körper zu stählen.
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