Wie wirst du Dich freuen, Ernst wiederzusehen. Wie der
groß geworden ist! Er ist jetzt gerade sechzehn Jahre und voller
Übermut und Kühnheit. Als echter Schweizer beabsichtigt er, in
fremde Kriegsdienste zu treten; allerdings sind wir damit nicht
recht einverstanden, wenigstens so lange der ältere Bruder noch
fort ist. Dein Vater will von der Sache überhaupt nichts wissen,
aber Ernst besaß nie Deinen Fleiß und Deine Freude am Studium. Er sieht es mehr als etwas
Nebensächliches an und verbringt seine Zeit meist in der frischen
Luft, auf Berghängen und am Seegestade. Ich fürchte, daß er ein
Müßiggänger wird, wenn wir seinem Willen nicht nachgeben und ihn
den Beruf wählen lassen, den er sich in den Kopf gesetzt hat.
Bei uns hat sich recht wenig geändert; nur die Kleinen sind
herangewachsen, seit Du von uns gegangen bist. Der blaue See, die
Berge mit ihren Schneehäuptern – sie verändern ihr Antlitz nicht.
Und mir scheint es, als herrschte in unserem ruhigen Heim und in
unseren friedlichen Herzen dasselbe Gesetz der Unveränderlichkeit.
Meine alltäglichen Beschäftigungen füllen meine Zeit ganz aus und
machen mir Freude, und mein Lohn ist es, wenn ich frohe, glückliche
Gesichter um mich sehe. Nur etwas ist in unserem kleinen Haushalt
anders geworden, seit Du nicht mehr hier bist. Erinnerst Du Dich
noch, wie Justine Moritz zu uns kam? Vielleicht nicht mehr, darum
will ich Dir die Sache mit ein paar Worten ins Gedächtnis
zurückrufen. Frau Moritz war eine Witwe mit vier Kindern, von denen
Justine das dritte war. Dieses Mädchen war immer ihres Vaters
Liebling gewesen; aber merkwürdigerweise mochte ihre Mutter sie
nicht ausstehen und behandelte sie sehr schlecht, als der Vater tot
war. Meine Mutter merkte das und machte Frau Moritz den Vorschlag,
die Kleine, die eben erst zwölf Jahre alt geworden war, in unserem
Hause dienen zu lassen. Die republikanischen Einrichtungen unseres
Landes bringen einfachere und schönere Lebensformen mit sich, als
man sie vielleicht in den Monarchien, die uns umgeben, kennt.
Deshalb ist auch kein so großer Unterschied zwischen der
wohlhabenden und der dienenden Klasse, und die letzteren sind
deshalb, weil sie nicht als minderwertig gelten, feiner und
moralischer als ihre in der gleichen Lage befindlichen Mitmenschen
in anderen Ländern. Ein Dienstmädchen in Genf ist etwas wesentlich
anderes als ein solches in Frankreich oder in England. Justine, die
in unsere Familie eintrat, nahm allerdings eine dienende Stellung
ein, die aber in unserem glücklichen Lande weder Unwissenheit
bedingt noch auch ein Opfer der Menschenwürde bedeutet.
Du erinnerst Dich sicher, daß Du Justine sehr
gern hattest, und ich weiß, daß Du eines Tages sagtest, daß ein
Blick aus Justines Augen imstande sei, jede üble Laune von Dir zu
vertreiben. Auch Deine Mutter war ihr sehr zugetan und beschloß,
ihr eine bessere Erziehung zu geben, als sie ursprünglich
beabsichtigt hatte. Diese Wohltat ward ihr reichlich vergolten,
denn Justine war das dankbarste Geschöpf, das man sich denken kann.
Nicht, daß sie schmeichelte; aber ihre Augen verrieten, wie sehr
sie ihre Herrin vergötterte. Wenngleich sie sehr lebhaft, in
mancher Hinsicht sogar unachtsam war, beobachtete sie doch mit der
größten Aufmerksamkeit jede Bewegung, jede Miene Deiner Mutter.
Diese galt ihr als Muster aller Vollkommenheit und sie bemühte
sich, ihr in Rede und Haltung zu gleichen, so daß sie mich heute
noch immer an die Entschlafene erinnert.
Als dann Deine geliebte Mutter starb, waren wir alle zu sehr in
unseren Gram vertieft, um von der armen Justine Notiz zu nehmen,
die die Kranke mit der hingebendsten Liebe gepflegt hatte. Das
Mädchen wurde sehr krank, aber andere Prüfungen waren ihr noch
vorbehalten.
Nach und nach starben alle ihre Brüder und Schwestern dahin und
ihre Mutter hatte niemand mehr als sie, die vernachlässigte
Tochter. Und da begann sich das Gewissen der alten Frau zu rühren:
sie glaubte in dem Tode ihrer Lieblinge ein Strafgericht für ihre
Ungerechtigkeit zu erkennen. Sie war katholisch und ich glaube, daß
ihr Beichtvater sie in dieser Ansicht nur noch bestärkt hat. Kurz,
einige Monate nach Deiner Abfahrt nach Ingolstadt wurde Justine zu
ihrer Mutter zurückberufen. Armes Ding! Sie weinte bitterlich, als
sie uns verließ; seit dem Tode Deiner Mutter war sie ganz verändert
und ihre frühere Lebhaftigkeit war einer herzgewinnenden Weichheit
und Milde gewichen. Aber der Aufenthalt bei ihrer Mutter war gar
nicht geeignet, sie wieder fröhlich zu machen. Die arme Frau war
nicht sehr beständig in ihrer Reue. Oftmals bat sie Justine, ihr
doch ihre Unfreundlichkeiten zu verzeihen, aber dann wieder klagte
sie sie an, daß sie am Tode ihrer Brüder und Schwestern schuld sei.
Dieser immerwählende Gram nagte an Frau
Moritz, die immer verdrießlicher und reizbarer wurde, bis sie
endlich auf ewig Ruhe fand. Sie starb bei dem Herannahen des kalten
Wetters zu Beginn des letzten Winters. Justine ist wieder bei uns
und ich kann Dir nur versichern, daß ich sie herzlich lieb habe.
Sie ist sehr klug und nett und außergewöhnlich hübsch. Wie ich Dir
schon sagte, erinnert sie mich in Miene und Haltung immerwährend an
Deine Mutter.
Noch muß ich Dir mit ein paar Worten über unseren lieben,
kleinen Wilhelm berichten. Ich wollte, Du könntest ihn sehen.
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