Aber damals hatte ichkeine Zeit zu antworten. Kaum fuhr der Wagen vor, als
ich auch schon hineinsprang und mich von meinem Freunde
verabschiedete.
Es war eine traurige Reise. Anfangs konnte es mir nicht rasch
genug gehen, denn ich sehnte mich danach, meine Lieben in der
Heimat in ihrem Gram zu trösten und sie in die Arme zu schließen.
Je näher ich aber meiner Vaterstadt kam, desto mehr verzögerte ich
die Fahrt. Ich konnte kaum der Fülle von Eindrücken Herr werden,
die über mich hereinstürmten. Es umgaben mich Bilder, die mir von
früher Jugend an lieb und vertraut waren, die ich aber seit nahezu
sechs Jahren nicht mehr gesehen hatte. Was konnte sich alles
während dieser Zeit geändert haben? Ein plötzliches, erschütterndes
Ereignis war ja eingetreten; aber noch tausend andere kleine
Veränderungen konnten geschehen sein, die, weniger tief
eingreifend, dennoch aber von entscheidender Bedeutung waren. Ich
empfand Furcht; ich wagte es nicht, die Fahrt zu beschleunigen,
denn tausend Befürchtungen standen mir vor Augen, die mich
erzittern ließen, obgleich ich nicht imstande war, mir darüber
Rechenschaft zu geben.
Ich blieb zwei Tage in Lausanne, um meiner Angst einigermaßen
Meister zu werden. Ich betrachtete den See. Das Wasser lag
friedlich da. Alles war still rings umher und die Schneeberge, die
Dome der Natur, waren genau so wie einst. In dieser ruhevollen,
erhabenen Umgebung erholte ich mich, so daß ich meine Reise nach
Genf fortzusetzen vermochte.
Die Straße lief neben dem See her, der gegen meine Vaterstadt zu
immer schmaler wurde. Immer deutlicher erkannte ich die finsteren
Hänge des Jura und den schimmernden Scheitel des Montblanc. Ich
weinte wie ein Kind. »Geliebte Berge! Herrlicher See! Wie
freundlich grüßt ihr den Heimkehrenden! Hell leuchten die
Berghäupter und blau und friedlich sind Himmel und See. Soll das
Frieden bedeuten oder ist es nur, um mein Unglück noch mehr zu
vertiefen?«
Ich fürchte, mein lieber Freund, daß ich Ihnen lästig falle,
indem ich Sie mit den Schilderungen meiner Gefühle langweile.Aber es waren Tage des Glückes, die ich nie vergessen
werde. Mein Heimatland, meine geliebte Heimat! Nur ein Sohn dieses
Landes kann verstehen, was ich beim Anblick dieser Bäche, dieser
Berge und vor allem des lieblichen Sees empfand.
Aber je näher ich Genf kam, desto mehr bemächtigten sich meiner
wieder Gram und Furcht. Die Nacht sank hernieder, und als ich die
Berge nicht mehr erkennen konnte, wurde es mir noch düsterer zu
Mute. Wie ein unheimlicher Alb lag es auf meiner Seele und dunkel
fühlte ich voraus, daß ich dazu bestimmt war, das unglücklichste
aller Geschöpfe zu werden. Leider hatte ich das Richtige geahnt und
mich nur insofern geirrt, als meine Befürchtungen und Vorahnungen
nicht den hundertsten Teil all des Elendes darstellten, das mir
beschieden war.
Es war vollkommen Nacht geworden, als ich vor den Mauern von
Genf ankam. Aber die Tore der Stadt waren schon geschlossen und ich
mußte mich deshalb bequemen, die Nacht in Socheron, einem kleinen
Dörfchen eine halbe Stunde von Genf entfernt, zuzubringen. Da das
Wetter noch günstig war und ich doch keine Ruhe gefunden hätte,
beschloß ich, den Ort zu besuchen, wo mein armer Bruder Wilhelm
ermordet worden war. Ich war genötigt, mit einem Boot über den See
nach Plainpalais zu fahren. Während dieser kurzen Überfahrt
bemerkte ich, daß Blitze um den Scheitel des Montblanc zuckten. In
unheimlicher Hast zog ein Gewitter heran und ich begab mich sofort
nach der Landung auf einen niederen Hügel, um von dort aus das
Naturschauspiel zu beobachten. Es machte rasche Fortschritte. Bald
war der Himmel von Wolken überzogen und schon klatschten die ersten
schweren Tropfen hernieder. Dann öffneten sich rauschend die
Schleusen über mir.
Durch die wachsende Finsternis, den heulenden Sturm schritt ich
dahin, während in den Lüften der Donner entsetzlich brüllte. Er
hallte zurück vom Salêve und von den Wänden des Jura und der
Savoyer Alpen. Grelle Blitze blendeten meine Augen und der See
erschien wie ein Meer von Feuer; bis dann das Auge sich wieder
erholt hatte, wandelte ich in der pechschwarzen
Finsternis dahin. Wie man es in der Schweiz
häufig beobachten kann, waren Gewitter von verschiedenen Seiten
aufgestiegen.
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