Es war ein warmer, schöner
Abend und wir dehnten unseren Spaziergang weiter aus als
gewöhnlich. Es war schon dämmerig geworden, bis wir ans Umkehren
dachten; aber wir vermißten Wilhelm und Ernst, die uns
vorausgegangen waren. Wir ließen uns auf einer Bank nieder und
warteten, bis auch sie umkehren würden. Plötzlich kam Ernst und
fragte, ob wir nicht seinen Bruder gesehen hätten. Er erzählte, daß
sie gespielt hätten und Wilhelm davongelaufen sei, um sich zu
verstecken; er habe ihn dann lange vergeblich gesucht und noch
länger auf ihn gewartet.
Diese Erzählung versetzte uns in nicht
geringe Erregung und wir begaben uns auf die Suche, bis es dunkle
Nacht war. Elisabeth kam auf die Vermutung, daß der Knabe
vielleicht heimgelaufen sein könnte. Aber auch hier fanden wir ihn
nicht. Wir gingen wieder hinaus, diesmal mit Fackeln, denn ich
hatte keine Ruhe, wenn ich daran dachte, daß der Junge sich
verlaufen haben könnte und die ganze Nacht dem Nebel und Tau
ausgesetzt sei. Auch Elisabeth litt furchtbare Angst. Morgens gegen
fünf Uhr fand ich den lieben Knaben, den ich noch am Abend zuvor
blühend und frisch gesehen hatte, bleich und steif auf dem
Grasboden ausgestreckt; an seinem Halse erkannte man noch die
Fingerabdrücke des Mörders.
Ich brachte ihn nach Hause, und die Qual, die sich in meinen
Zügen ausdrücken mußte, ließ Elisabeth sofort das Gräßliche
erraten. Sie wollte absolut den kleinen Leichnam sehen. Zuerst
versuchte ich es zu verhindern, aber sie bestand auf ihrem Wunsche.
Als sie in das Zimmer kam, wo der Kleine lag, ging sie eilig auf
ihn zu und rief, die Hände ringend: »O Gott, ich habe das gute Kind
gemordet!«
Sie brach zusammen und konnte nur mit großer Mühe wieder zum
Bewußtsein gebracht werden. Und kaum war sie erwacht, als sie zu
weinen und zu klagen begann. Sie erzählte mir, daß am Abend sie der
Kleine so lange geplagt hatte, bis sie ihm erlaubte, ein Medaillon
mit einer wertvollen Miniatur, die Deine Mutter darstellte, zu
tragen. Dieses Medaillon fehlt und war zweifellos das, was den
Mörder zu seiner unseligen Tat anreizte. Wir haben bis jetzt noch
keine Spur von ihm, obgleich wir unermüdlich nach ihm forschen.
Aber was hilft es, unser armer Wilhelm wird davon nicht mehr
lebendig.
Komm heim, lieber Viktor; Du allein wirst Elisabeth zu trösten
vermögen. Sie weint unausgesetzt und klagt sich der Schuld an dem
Unglück an; ihr Jammer macht mich noch elender. Wir sind alle wie
gebrochen, und das wird erst recht ein Anlaß für Dich sein,
geliebter Sohn, heimzukehren und uns zu trösten.
Deine gute Mutter! Wie danke ich Gott, daß er sie es
nicht mehr erleben ließ, wie ihr jüngstes
Kind so elend und grausam zu Grunde gehen mußte!
Komm, Viktor; nicht rachebrütend gegen den feigen Mörder,
sondern voll Liebe und Güte gegen uns, die Dich lieb haben. Dein
Dich liebender, unglücklicher Vater Alfons Frankenstein.
*
Genf, den 12. Mai 17..
Clerval, der mich beobachtet hatte, während ich las, war
überrascht von meiner Verzweiflung, die an die Stelle meiner Freude
bei Empfang des Briefes getreten war. Ich warf den Brief auf den
Tisch und barg mein Gesicht in den Händen.
»Lieber Frankenstein,« sagte er, als er bemerkte, daß ich
bitterlich weinte, »bist du denn noch immer unglücklich? Was ist
denn geschehen?«
Ich veranlaßte ihn mit einer Handbewegung, den Brief zu lesen;
währenddem ging ich in der heftigsten Erregung im Zimmer auf und
nieder. Auch aus seinen Augen drangen Tränen, als er den
schrecklichen Bericht las.
»Trösten kann ich dich nicht, armer Freund, sagte er, »dazu ist
das Unglück zu groß. Was wirst du nun tun?«
»Sofort nach Genf reisen. Komm mit mir, die Pferde
bestellen.«
Auf dem Wege versuchte Clerval einige Worte des Trostes zu
finden. Wenn es ihm auch nicht möglich war, so fühlte ich doch, wie
tief er mit mir litt. »Armer Wilhelm! Nun ruht der liebe Junge bei
seiner seligen Mutter. Und wenn man ihn noch frisch und blühend
gekannt hat, muß es einem ja noch viel weher tun. So elend enden zu
müssen unter dem grausamen Griff eines Mörders! Und was für eine
Bestie muß der sein, der imstande ist, ein so junges, unschuldiges
Leben zu zerstören! Aber daß er nun Frieden hat, mag ein Trost sein
für die, die an seiner Bahre klagen und trauern. Wir dürfen ihn
nicht weiter bemitleiden, sondern die Überlebenden sind es, die
unseres Mitleides bedürfen.«
So sprach Clerval, während wir durch die Straßen eilten. Ich
erinnere mich noch heute seiner Worte.
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