Ich hoffe, daß mein bisheriges Leben meine Richter
auch da zu einer milden Auffassung veranlassen wird, wo
zweifelhafte oder verdächtige Umstände vorliegen.«
Sie erzählte dann, daß sie den Abend vor der Mordnacht bei einer
Tante in Chêne verbracht habe, einer Ortschaft, die ungefähr eine
Meile von Genf entfernt ist. Als sie abends um neun Uhr
zurückkehrte, begegnete sie einem Manne, der sie fragte, ob sie
nicht den Kleinen gesehen habe. Sie sei dadurch sehr beunruhigt
gewesen und habe sich sofort auf die Suche begeben. Unterdessen
seien aber die Tore von Genf geschlossen worden und sie sei
genötigt gewesen, in einer Scheuer Unterschlupf zu suchen, die zur
Villa einer bekannten Familie gehörte, die sie aber so spät nicht
mehr stören wollte. Fast die ganze Nacht habe sie hier wachend
zugebracht, nur gegen Morgen sei sie auf kurze Zeit eingeschlafen,
dann aber bald wieder durch ein Geräusch von Schritten aufgeweckt worden. Da es inzwischen hell geworden war,
habe sie ihr Asyl verlassen und nochmals nach dem Vermißten
gesucht. Wenn sie in die Nähe der Stelle gekommen sei, wo der
Leichnam lag, so sei es völlig ohne ihr Wissen geschehen. Daß sie,
von der Marktfrau angesprochen, verstört ausgesehen habe, sei nicht
zu verwundern in Anbetracht dessen, daß sie eine schlaflose Nacht
hinter sich hatte und das Schicksal des kleinen Wilhelm noch nicht
geklärt war. Wegen des Bildes konnte sie eine Erklärung nicht
abgeben.
»Ich weiß,« fuhr das unglückselige Geschöpf fort, »wie schwer
dieser eine Umstand gegen mich ins Gewicht fällt und wie
verhängnisvoll er mir werden kann, aber ich vermag nicht die
geringste Aufklärung darüber zu geben. Ich kann nicht einmal
Vermutungen aussprechen, wie das Bild in meine Tasche gekommen sein
mag. Ich glaube keinen Feind auf der Welt zu haben, und jedenfalls
keinen, der so schlecht wäre, mich auf diese niederträchtige Weise
zu verderben. Hat mir der Mörder das Bild zugesteckt? Ich sehe
keine Ursache, warum er das getan haben sollte; denn wenn er die
Untat beging, um sich das kostbare Bildchen zu verschaffen, was
veranlaßte ihn, es so bald wieder herzugeben?«
»Ich vertraue ganz meinen Richtern, wenn ich auch der Hoffnung
nicht Raum zu geben wage. Ich bitte, daß einige Zeugen über mich
und mein Vorleben vernommen werden; und wenn ihr Zeugnis nicht
imstande ist, Sie von meiner Unschuld zu überzeugen, dann werde ich
wohl verurteilt werden müssen.«
Mehrere Zeugen wurden aufgerufen, die die Angeklagte schon seit
Jahren kannten, und sie sagten nur Gutes von ihr aus. Aber
Befangenheit und Abscheu vor dem Verbrechen, dessen sie sie für
schuldig hielten, hinderte sie, recht aus sich herauszugehen.
Elisabeth erkannte, wie auch diese letzte Hoffnung der Angeklagten
zusammensank, und bat in tiefster Erregung den Gerichtshof,
sprechen zu dürfen.
»Ich bin dem unglücklichen getöteten Kinde von je wie eine
Schwester gewesen, denn ich habe bei seinen Eltern gelebt,
noch ehe es auf der Welt war. Es wird mir
deshalb vielleicht verübelt werden können, wenn ich mich vordränge;
aber wenn ich sehe, daß ein Mitgeschöpf an der Feigheit seiner
angeblichen Freunde zugrunde gehen muß, dann hält mich nichts mehr,
dann muß ich reden. Ich bin mit der Angeklagten sehr gut bekannt.
Ich habe mit ihr unter einem Dache gewohnt, erst fünf, später fast
zwei Jahre. Während dieser ganzen Zeit habe ich sie als das
liebenswürdigste, gütigste Wesen lieben gelernt. Sie pflegte Frau
Frankenstein in ihrer letzten Krankheit mit der größten Aufopferung
und Sorgfalt; dann versorgte sie ihre alte Mutter, die an einer
widerwärtigen Krankheit dahinsiechte, in einer Weise, die allen
Bekannten die größte Hochachtung abnötigte; dann kam sie wieder zu
uns und machte sich in der ganzen Familie beliebt. Sie war überaus
zärtlich zu dem Kinde, das jetzt der Rasen deckt, und war ihm wie
eine fürsorgliche Mutter. Ich für meinen Teil stehe nicht an zu
sagen, daß ich, wie sehr auch die Umstände gegen sie zeugen mögen,
doch meine Hand für ihre Unschuld ins Feuer legen würde. Es lag ja
für sie gar keine Ursache vor, so zu handeln, denn sie wußte, daß
ich sie so lieb hatte, daß ich ihr das Bild auf eine Bitte hin ohne
weiteres geschenkt hätte.«
Ein Murmeln des Beifalls ertönte durch den Raum; aber er galt
der edelmütigen, einfachen und doch packenden Verteidigungsrede,
nicht aber dem armen Opfer. Justine weinte, während Elisabeth
sprach, aber sie antwortete nicht mehr. Meine Erregung und Angst
hatten sich während des Verhörs bis aufs äußerste gesteigert. Ich
glaubte an ihre Unschuld, ich wußte, daß sie rein war. Konnte der
Dämon, der meinen Bruder ermordet hatte daran zweifelte ich ja
keinen Augenblick mehr – in teuflischer Bosheit dem unglücklichen
Mädchen einen schmachvollen Tod zugedacht haben? Ich befand mich in
einer entsetzlichen, geradezu unerträglichen Lage, und als ich an
den ernsten Gesichtern der Richter erkannte, daß sie, der Stimme
des Volkes entsprechend, die Unselige verurteilen mußten, stürzte
ich von Höllenqualen gepeinigt aus dem Saal. Die Leiden der
Angeklagten kamen sicherlich den meinen nicht gleich; sie hatte das
Gefühl der Unschuld in der Brust, während
hinter mir wie Eumeniden die Gewissensbisse ihre Geißeln
schwangen.
Wie ich die Nacht verbrachte, kann ich nicht schildern. Am
frühen Morgen begab ich mich ins Gerichtsgebäude; aber meine Kehle
war wie zugeschnürt, so daß ich die schicksalsschwere Frage nicht
zu stellen vermochte. Man erkannte mich und ein Beamter erriet die
Ursache meines Besuches. Er sagte mir, daß nur schwarze Kugeln in
die Urne gelegt worden seien, Justine also verurteilt sei.
Wie soll ich die Gefühle nennen, die sich meiner bemächtigten?
Ich hatte ja das Entsetzen schon kennen gelernt, aber das war gar
nichts gegen das, was ich nun zu erdulden hatte. Der Beamte fügte
noch bei, daß Justine selbst ihre Schuld eingestanden habe.
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