»In diesem so klaren Falle wäre das ja gar nicht nötig gewesen,« bemerkte er, »aber trotzdem ist es besser so, denn unsere Richter verurteilen nicht gern auf Grund von Indizienbeweisen, mögen sie noch so schlüssig sein.«

Das war allerdings etwas Seltsames und Unerwartetes. Was konnte er meinen? Sollten mich wirklich meine Augen so getäuscht haben oder war ich tatsächlich ein Narr gewesen, wenn ich gegen einen andern Argwohn geschöpft hatte? Ich eilte nach Hause und Elisabeth erkundigte sich ungeduldig nach dem Ergebnis meiner Anfrage.

»Meine Liebe,« sagte ich, »es ist so gekommen, wie du dir denken konntest. Unsere Richter lassen lieber zehn Unschuldige leiden, als daß sie einen Schuldigen entschlüpfen lassen; und sie ist schuldig – sie hat es selbst eingestanden.«

Das war ein harter Schlag für Elisabeth, die immer noch fest auf Justines Unschuld gebaut hatte. »Wie soll ich,« sagte sie, »jemals noch einem Menschen vertrauen? Justine, die ich liebte wie eine Schwester, hat uns mit ihrem engelreinen Lächeln betrogen! Sie, deren Augen keine Strenge oder Grausamkeit kannten, vermochte einen Mord zu begehen!«

Bald danach erhielten wir Nachricht, daß das arme Opfer den Wunsch geäußert habe, Elisabeth zu sprechen. Mein Vater wollte es erst nicht zugeben, überließ es aber dann doch ihrem eigenen Ermessen. »Ja,« sagte Elisabeth, »ich will gehen, wenn sie auch schuldig ist; und dich, Viktor, bitte ich, mich zu begleiten, allein kann ich nicht.« Es war mir eine erneute Qual, aber ich konnte mich nicht weigern.

Wir betraten die düstere Zelle und erkannten Justine, die in der anderen Ecke auf einem Strohhaufen saß. Sie hielt die Hände gefaltet und ihr Kopf lag auf ihren Knieen. Als wir eintraten, erhob sie sich und warf sich, nachdem der Wärter uns mit ihr allein gelassen, vor Elisabeth nieder, indem sie bitterlich weinte. Auch Elisabeth weinte laut.

»Ach, Justine,« sagte sie, »warum hast du mich meiner letzten Hoffnung beraubt? Ich habe auf deine Unschuld gebaut. Wenn ich auch vorher schon unglücklich war, so hat mich doch dein Geständnis noch unglücklicher gemacht.«

»Und glaubst also auch du, dass ich so sehr verworfen bin? Bereinigst auch du dich mit meinen Peinigern, die mich als Mörderin verurteilen?« Ihre Stimme erstickte in Tränen.

»Steh auf, du Arme,« erwiderte Elisabeth, »warum kniest du, wenn du dich unschuldig weißt? Ich gehöre nicht zu deinen Feinden; ich hielt dich so lange für schuldlos, bis ich hörte, daß du gestanden habest. Du sagst, dass dies nicht wahr ist. Sei überzeugt, daß nichts imstande ist, mein Vertrauen in dich zu erschüttern, als ein Bekenntnis deiner Schuld aus deinem eigenen Munde.«

»Ich habe gestanden, aber was ich gestand, war eine Lüge. Ich gestand nur, um Absolution zu erlangen, und nun liegt mir diese Unwahrheit noch schwerer auf dem Herzen als alle meine anderen Sünden zusammen. Gott im Himmel sei mir gnädig! Aber seit ich verhaftet wurde, ließ mein Beichtvater nicht mehr von mir ab; er schalt und drohte mir, bis ich schließlich selbst daran glaubte, daß ich das Ungeheuer war, zu dem er mich machte. Mit Exkommunitation und Schilderung aller Höllenstrafen suchte er mich weich zu machen. Liebste Freundin, ich hatte niemand, der mich gestützt hätte; jeder blickte auf mich wie auf eine Verdammte, deren Los Schmach und Tod war. Was konnte ich tun? In einer schwachen Stunde unterschrieb ich mein erlogenes Geständnis, und nun bin ich erst ganz elend geworden.«

Der Schmerz übermannte sie; nach einer Weile aber fuhr sie gefaßter wieder fort: »Das Schlimmste war mir, denken zu müssen, daß du, liebe Freundin, mich, die du doch so geliebt, für eine Kreatur halten mußtest, fähig eines Verbrechens, wie es sich nur ein Teufel ersinnen kann. Lieber kleiner, armer Wilhelm! Bald werde ich bei dir im Himmel sein, das macht mir mein schmachvolles Ende leichter.«

»Justine verzeihe mir, daß ich dir auch nur einen Augenblick mißtrauen konnte. Aber warum hast du auch das Geständnis abgelegt? Doch sei ruhig, fürchte dich nicht! Ich will es in die Welt hinausrufen, daß du frei von Schuld bist. Ich will die steinernen Herzen deiner Peiniger mit Tränen und Bitten erweichen. Du darfst mir nicht sterben! Du, meine Spielgenossin, meine Freundin, meine Schwester, solltest das Schaffot besteigen müssen! Nein, nein, das könnte ich nicht überleben!«

Justine schüttelte traurig den Kopf. »Ich fürchte den Tod nicht,« sagte sie, »er hat keinen Stachel mehr für mich. Gott wird mir Kraft geben, dieses Schwere zu tragen. Ich scheide aus einer bösen, traurigen Welt, und wenn Ihr meiner in Liebe gedenkt und mir als einer ungerecht Verurteilten euer Mitleid schenkt, dann bin ich für das Schicksal entschädigt, das meiner wartet. Ich habe gelernt, mich ohne Widerstreben in den Willen des Höchsten zu fügen.«

Während dieser Aussprache hatte ich mich in einen Winkel der Zelle zurückgezogen und versuchte der entsetzlichen Stimmung Herr zu werden, die sich meiner bemächtigt hatte. Verzweiflung! War es nur Verzweiflung? Das arme Opfer, das morgen die dunkle Schwelle zwischen Leben und Tod überschreiten mußte, empfand vielleicht kein so tiefes, bitteres Weh wie ich. Ich biß die Zähne aufeinander, um das Schluchzen zu unterdrücken, das sich aus der Tiefe meines Herzens emporzudrängen suchte. Justine kam auf mich zu und sagte: »Lieber Herr, ich danke Ihnen, daß Sie mich noch besucht haben. Ich hoffe, daß auch Sie von meiner Unschuld überzeugt sind.«

Ich vermochte nichts zu erwidern. »Er glaubt an dich fester,« sagte Elisabeth, »als ich es tat. Denn selbst als er von deinem Geständnis gehört hatte, verteidigte er deine Unschuld.«

»Ich danke Ihnen von Herzen.