Elisabeth mußte die Qualen, die
ich litt, aus meinen Zügen erkennen, denn sie ergriff meine Hand
und sagte zärtlich: »Liebster, du mußt dich aber beruhigen. Die
Ereignisse haben auch mich, weiß Gott, aufs Tiefste erschüttert;
aber ich bin doch nicht so elend daran, wie du. In deinem Gesicht
lese ich Verzweiflung und Rachedurst, die mich erzittern machen.
Liebster, banne diese finsteren Gefühle. Denke daran, daß wir alle
unsere Hoffnung auf dich setzen. Sind wir denn nicht imstande, dich
wieder glücklich zu machen? Wenn wir uns lieb haben, wenn wir treu
zu einander halten, hier in dem Lande der Schönheit und des
Friedens, in deinem Heimatlande, sollten wir da nicht wieder
zufrieden werden können, sollte da nicht auch dir neues Leben
erblühen?«
Und trotzdem sie die Worte sprach, sie, die ich über alles
liebte, konnte ich doch des Feindes nicht Herr werden, der sich in
meiner Brust eingenistet hatte. Ich zog sie an mich, als müßte ich
fürchten, daß jetzt, gerade in diesem Augenblick, der Zerstörer
kommen und sie von mir reißen könnte.
Nicht die zarteste Freundschaft, nicht die Schönheit meiner
Umgebung vermochten mich von dem drückenden Alp zu befreien, und
selbst für das Flehen der Liebe hatte ich kein Verständnis. Ich
glich dem verwundeten Wild, das seine blutenden Glieder mühsam in das tiefste Dickicht schleppt und,
auf den Pfeil in der Todeswunde starrend, sein Leben aushaucht.
Manchmal gelang es mir, auf Augenblicke der düsteren Wolken Herr
zu werden, die auf meiner Seele lagerten, indem ich durch
weitausgedehnte Spaziergänge meinen Körper ermüdete. Einmal verließ
ich plötzlich unser Heim und suchte in der ewigen Schönheit der
Berge mein vergängliches Menschenleid zu vergessen. Meine Wanderung
ging in das Tal von Chamounix, das ich als Knabe öfters besucht
hatte. Sechs Jahre waren seitdem verflossen. Ich war vernichtet,
aber nichts hatte sich an den überwältigenden, unvergänglichen
Schönheiten dieses Erdenstriches geändert.
Den ersten Teil der Reise machte ich zu Pferde. Später mietete
ich mir ein Maultier, das sicherer auf den Füßen war und auch
weniger unter den schlechten Wegverhältnissen litt. Das Wetter war
wunderschön. Es war Mitte August, beinahe zwei Monate, seit Justine
von uns gegangen, seit mein furchtbarer Zustand seinen Anfang
genommen. Je tiefer ich in das Tal der Arve vordrang desto leichter
wurde mir ums Herz. Die mächtigen Berge und steilen Abstürze zu
beiden Seiten meines Pfades, das Rauschen des Flusses, der sich
zwischen den Felsen seinen Weg suchte, und das Dröhnen der
Wasserfälle, das alles sprach zu mir wie ein Flüstern der Allmacht.
Und ich hörte auf zu fürchten, mich vor Mächten zu beugen, die
schwächer waren als sie, die die Elemente schuf und ihnen gebietet.
Je höher ich kam, desto wilder und herrlicher wurde das Tal.
Burgruinen hingen kühn an den bewaldeten Bergwänden; die tosende
Arve und die Hütten, die da und dort aus den Bäumen hervorlugten,
boten ein unvergleichlich schönes Bild. Und darüber ragten die
weißen, schimmernden Kuppeln und Pyramiden der Alpen in
überirdischer Pracht, wie Wohnungen von Wesen, die so ganz anders
sind als wir.
Ich passierte die Brücke von Pelissier, von wo sich der Blick
auf die Schlucht der Arve öffnet, und erklomm dann den Berg, der
mich noch vom Tal von Chamounix trennte. Dieses Tal ist mächtiger und erhabener als das von Servox, das ich
eben erst verlassen, aber nicht so wild und malerisch. Es wird von
hohen Schneebergen eingeschlossen, aber es fehlen ihm die
Schloßruinen und die fruchtbaren Erdstreifen. Ungeheure Gletscher
drängen sich bis dicht an die Talstraße. Ich hörte das Brüllen der
stürzenden Lawinen und erkannte den Schneestaub, den sie im Falle
aufwirbelten. Im Hintergrunde des Tales erhob sich der herrliche,
unvergleichliche Montblanc wie ein König.
Oft durchzog mich während dieser Reise das langentbehrte Gefühl
der Freude. Jede Wendung der Straße, jeder neue Anblick rief mir
die Jugend mit ihrem leichtherzigen Frohsinn in die Erinnerung
zurück. Die Winde schienen mir beruhigend zuzuflüstern und Mutter
Natur bat mich, nicht mehr zu klagen. Wenn aber der Einfluß der
mich umgebenden Schönheit einen Augenblick aussetzte, dann
überwältigte mich wieder der Gram und ich versenkte mich von neuem
in meine schmerzlichen Grübeleien. Dann trieb ich mein Tier zu
rascherer Gangart an, um so die Welt, meine Sorgen und vor allem
mich selbst zu vergessen, oder ich stieg ab und warf mich zur Seite
des Pfades auf die Erde, niedergedrückt von Entsetzen und Leid.
Schließlich kam ich nach Chamounix, wo die tiefste Erschöpfung
den außerordentlichen körperlichen und seelischen Anstrengungen
folgte. Kurze Zeit stand ich noch am Fenster meines Gasthofes und
sah hinauf zum Montblanc, um dessen majestätisches Haupt bleiche
Blitze zuckten, und horchte auf das Rauschen der Arve, die
unermüdlich ihren rauhen Weg ins Tal verfolgte. Dieses gleichmäßige
Geräusch wirkte einschläfernd auf meine erregten Gefühle, und als
ich dann meinen Kopf auf die Kissen bettete, empfand ich, wie der
Schlaf, der Tröster, langsam auf meine Augen sank.
Kapitel 10
Den folgenden Tag benützte ich, um das Tal zu durchstreifen. Ich
stand an der Quelle des Arveiron, am Fuße des Gletschers, der mit
langsamen Schritten von der Höhe hinabgleitet. Zu beiden Seiten
ragten schroffe Felshänge gegen den Himmel und vor mir lag die
mächtige Fläche des Gletschers.
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