Was hatten also ihre Tränen zu bedeuten? Waren sie
wirklich der Ausdruck des Leides? Zuerst war ich nicht imstande,
mir diese Fragen zu beantworten, aber mit der Zeit ward mir
verschiedenes klar, was mir bisher rätselhaft gewesen.
Es bedurfte langer Zeit, ehe ich eine der Hauptursachen ihres
Kummers begriff. Es war die Armut, unter der sie in schrecklicher
Weise zu leiden hatten. Ihre Nahrung bestand fast nur aus den
Kräutern, die ihnen der Garten lieferte, und der Milch ihrer
einzigen Kuh, für die sie im Winter kaum genügend Futter
herbeizuschaffen vermochten. Ich glaube, daß die beiden jungen
Menschen oft vom Hunger gequält wurden, denn ich bemerkte mehrmals,
daß sie dem Greise Nahrung vorsetzten, ohne für sich selbst etwas
übrig zu behalten.
Dieser Zug von Güte rührte mich. Ich hatte bisher in der Nacht
einen Teil ihrer Nahrungsmittel für meinen Gebrauch gestohlen.
Nachdem ich aber wußte, daß ich den guten Menschen damit wehe tat,
verzichtete ich darauf und holte mir in einem benachbarten Gehölz
Beeren, Nüsse und Wurzeln.
Ich entdeckte auch ein Mittel, ihnen bei
ihrer Arbeit behülflich zu sein. Ich hatte beobachtet, daß der
junge Mensch einen großen Teil des Tages darauf verwendete, Holz
für den heimatlichen Herd zu sammeln. Ich nahm daher in der Nacht
sein Werkzeug an mich, dessen Gebrauch ich rasch erlernte, und
brachte Heizmaterial mit nach Hause, das für mehrere Tage
ausreichte.
Ich erinnere mich, wie das Mädchen erstaunte, als sie eines
Morgens, vor die Haustüre tretend, einen großen Haufen Holz
aufgeschichtet vor sich sah. Sie schrie laut auf, und als der
Jüngling herbeikam, äußerten sie offenbar ihr Erstaunen. Ich
bemerkte mit Genugtuung, daß er es an diesem Tage unterließ, in den
Wald zu gehen, sondern sich im Hause und im Garten
beschäftigte.
Nach und nach machte ich aber eine Entdeckung, die für mich von
ungeheurer Wichtigkeit war. Ich bemerkte nämlich, daß diese Wesen
eine Methode besaßen, sich gegenseitig ihre Gefühle in
artikulierten Lauten auszudrücken und daß die Worte, die sie
sprachen, bald Leid, bald Freude, bald Frohsinn, bald Schmerz im
Zuhörer hervorzurufen vermochten, wie man an ihren Mienen erkennen
konnte. Das war allerdings eine herrliche Gabe und ich brannte
förmlich danach, diese Methode genauer zu erforschen. Aber jeder
Versuch, den ich unternahm, scheiterte kläglich. Ihre Aussprache
war rasch, und da ich keinen Zusammenhang zwischen ihren Worten und
den bestehenden Dingen sah, hatte ich gar keinen Anhaltspunkt. Nur
meinem großen Eifer hatte ich es zu danken, daß es mir nach Verlauf
mehrerer Monate gelang, die gebräuchlichsten Bezeichnungen zu
erlernen. Ich wußte die Worte: Feuer, Milch, Brot und Holz zu
deuten und auszusprechen. Dann merkte ich mir die Namen der
Hausbewohner selbst. Hierbei fiel mir auf, daß die beiden jungen
Leute mehrere Namen, der Alte aber nur einen, nämlich »Vater«
hatte. Das Mädchen hieß »Schwester« oder »Agathe«, der Jüngling
»Felix«, »Bruder« oder »Sohn«. Ich kann dir das Vergnügen nicht
schildern, das ich empfand, als ich einigermaßen in die
Gedankenwelt der guten Leute eindringen konnte. Sie
gebrauchten noch mehr sehr häufig andere
Worte, deren Sinn ich aber zunächst nicht begriff, wie zum Beispiel
»gut«, »Liebster« oder »unglücklich«.
Unterdessen war der Winter vergangen und ich hatte diese
Menschen sehr lieb gewonnen, so daß ich mit ihnen litt, wenn sie
traurig waren, und mich freute, wenn sie sich freuten. Außer ihnen
sah ich nur wenige menschliche Wesen, und wenn es ja vorkam, daß
Fremde das Haus betraten, so fiel der Vergleich zwischen ihnen und
meinen Freunden immer zum Vorteil der letzteren aus. Der Alte
schien sich oftmals zu bemühen, seinen Hausgenossen Mut
zuzusprechen, und die Güte und Liebe, die in seinem ganzen Wesen
lagen, taten sogar mir wohl. Agathe lauschte meistens schweigend
seinen Worten; aber in ihre Augen traten Tränen, die sie verstohlen
wegwischte. Jedenfalls gewann ich den Eindruck, als sei sie wieder
fröhlicher und vertrauensvoller, wenn der Alte zu ihr gesprochen
hatte. Mit Felix war es anders. Er war immer der Traurigste in der
ganzen Familie, und selbst mit meinen ungeübten Sinnen erkannte
ich, daß er am schwersten gelitten haben mußte. Aber wenn er auch
trauriger aussah als die anderen, so war doch seine Stimme
fröhlicher als die seiner Schwester, besonders dann, wenn er mit
dem Vater sprach.
Ich könnte dir unzählige Beispiele aufführen, die unverkennbar
zeigten, wie sehr diese Leute aneinander hingen. Mochte auch Armut
und Mangel schwer auf ihnen lasten, der Bruder vergaß doch nicht,
die ersten weißen Blümchen, die aus dem Schnee lugten, seiner
Schwester zu bringen. Früh am Morgen, noch ehe die Sonne
aufgegangen war, kehrte er den Schnee von dem Wege, den sie zu
gehen hatte, um nach dem Stalle zu gelangen, holte Wasser aus dem
Brunnen und schleppte Brennholz ins Haus, immer sehr erstaunt, wenn
er bemerkte, daß der Vorrat von unbekannter Hand wieder ergänzt
worden war. Unter Tags arbeitete er vermutlich für einen Nachbar,
denn er ging früh fort und kehrte erst zu Tisch wieder heim,
brachte aber nie mehr Holz mit.
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