Safie war immer lustig und guter Dinge. Sie
und ich drangen rasch in die Geheimnisse der Sprache ein,
so daß ich nach zwei weiteren Monaten fast
alles verstand, was gesprochen wurde.
Auf den Feldrainen blühten ungezählte Blumen und auf dem
mondbeschienenen Waldboden leuchteten ihre bleichen Sterne. Die
Sonne war kräftiger geworden, die Nächte klar und mild. Meine
Ausflüge bildeten ein großes Vergnügen für mich, wenn sie auch
infolge des frühen Sonnenaufgangs und des späten Sonnenunterganges
bedeutend kürzer werden mußten. Denn so lange es Tag war, wagte ich
es nicht, meine Hütte zu verlassen, da ich fürchten mußte, dieselbe
Behandlung zu erfahren, wie schon einmal, und die ich nie
vergaß.
Meine Tage waren dem aufmerksamsten Studium gewidmet, denn es
kam mir darauf an, möglichst bald der Kunst der Sprache teilhaftig
zu werden. Ich darf mich rühmen, daß meine Fortschritte größer
waren als die der Fremden, die noch sehr wenig verstand und nur
sehr gebrochen sprach, während ich fast jedes Wort, das ich hörte,
begriff und zu wiederholen wußte.
Aber nicht nur die Sprache, sondern auch die Schrift erlernte
ich auf dieselbe Weise wie die Fremde. Damit eröffneten sich mir
herrliche Gebiete, die mich in Erstaunen und Bewunderung
versetzten.
Das Buch, aus dem Felix Safie unterrichtete, war Volneys
»Zertrümmerte Reiche«. Ich hätte ja den Inhalt des Buches nie
erfaßt, wenn nicht Felix immer ausführliche Erläuterungen dazu
gegeben hätte. Er hatte dieses Werk gewählt, weil der Stil des
Werkes außerordentlich anschaulich war.
Der Inhalt jenes Buches regte mancherlei Gedanken in mir an.
Waren denn die Menschen wirklich zugleich so mächtig, tugendhaft
und groß und doch dabei so lasterhaft und schlecht? Der Mensch
erschien mir einmal als der Repräsentant des bösen Prinzips und
dann ein andermal wieder als der Inbegriff des Edlen und
Göttlichen. Ein großer, tugendhafter Mensch zu sein, das mußte doch
das Herrlichste bedeuten, was sich ein denkendes Wesen vorstellen
kann; und als tiefste Erniedrigung erschien es mir, lasterhaft und
schlecht zu sein, ein Leben zu führen, das nutzloser war als das des blinden Maulwurfs oder des
harmlosen Wurmes. Lange konnte ich es überhaupt nicht begreifen,
daß es Wesen gäbe, die imstande waren, ihresgleichen zu morden, und
warum es Gesetze und Regierungen gab. Aber als ich von Verbrechen
und Blutvergießen erzählen hörte, wunderte ich mich nimmer, sondern
wandte mich voll Ekel und Abscheu ab.
Jedes Gespräch der Hausbewohner eröffnete mir neue Perspektiven.
Bei Gelegenheit der Belehrungen, die Felix der Fremden gab, erfuhr
ich auch von dem seltsamen System der menschlichen Gesellschaft.
Ich hörte von Teilung des Besitzes, von unermeßlichen Reichtümern
und entsetzlichster Armut, von Rang, Abkunft und edlem Blute.
Dieses Kapitel veranlaßte mich, über mich selbst nachzudenken.
Ich sah, daß das, was meine Mitmenschen als das Höchste betrachten,
edle, fleckenlose Abkunft und Reichtum sind. In seltenen Fällen
mochte es ja vorkommen, daß einer, der nur einen dieser beiden
Vorzüge besaß, geachtet war; meistens aber betrachtete man einen
solchen Menschen als Lump oder Sklaven, der lediglich dazu da ist,
seine Kräfte im Dienste weniger Auserwählter zu verbrauchen. Und
was war ich? Ich wußte von meiner Entstehung, von meiner Abkunft
gar nichts; aber das wußte ich, daß ich kein Geld, keine Freunde
mein eigen nannte. Außerdem war ich noch besonders häßlich und
mißgestaltet und nicht einmal dasselbe Wesen wie ein Mensch. Ich
war beweglicher als ein solcher und kam mit weniger Nahrung aus;
ich ertrug mit größerer Gleichgültigkeit Kälte und Hitze und war an
Größe und Kraft weit überlegen. Aber wenn ich um mich sah, fand ich
niemand, der mir glich. Ich war also eine Abnormität, ein
Ungeheuer, ein Schandfleck der Schöpfung, den alle Menschen flohen
und von sich stießen.
Ich würde vergebens versuchen, dir die Qualen zu schildern, die
diese Gedanken in mir wachriefen. Ich wollte ihrer Herr werden,
aber mein Leid wuchs nur, je mehr ich darüber nachsann. O, daß ich
doch immer in meinem Walde geblieben wäre und nicht gelernt hätte, etwas anderes zu fühlen als die
Regungen des Hungers und des Durstes!
Welch seltsames Ding ist doch das Wissen! Es klammert sich an
unser Inneres, wie eine Flechte an den Stein. Ich hätte oft
gewünscht, all das Fühlen und Denken von mir abschütteln zu können.
Aber ich erfuhr auch, daß es gegen all diese Schmerzen nur ein
einziges Heilmittel gibt – den Tod, einen Begriff, den ich
fürchtete, den ich aber nicht zu fassen vermochte. Ich bewunderte
die Tugend und alle hohen, edlen Gefühle und liebte die schönen,
guten Menschen, dich ich bis jetzt, allerdings nur von Ferne,
kennen gelernt hatte. Aber vom Verkehr mit ihnen war ich
ausgeschlossen, wenn ich nicht das, was ich mir verstohlen ansah,
als solchen bezeichnen will und das meine Begierde, einer von ihnen
zu sein, nur noch mehr anstachelte. Die freundlichen Worte Agathes,
das liebliche Lächeln der Fremden waren nicht für mich berechnet,
und die milden Worte des Greises und die klugen Reden des jungen
Mannes richteten sich nicht an mich. Elender, armer Wicht der ich
war!
Andere Dinge, die ich hörte, wirkten noch niederdrückender auf
mich. Ich erfuhr vom Unterschied der Geschlechter, von der Geburt
und der Erziehung der Kinder; von dem glücklichen Lächeln des
Vaters, von der Liebe und Hingebung der Mutter; von Bruder,
Schwester und all den anderen Verwandtschaftsgraden, die die Bande
bezeichnen, die die Menschen unter einander bindet.
Aber wer sind meine Freunde und Verwandten? Kein Vater hat meine
Kinderjahre behütet, keine Mutter mir ihre Liebe und Zärtlichkeit
geschenkt; oder wenn es doch so war, dann war mein bisheriges Leben
ein Traum, von dem ich nichts mehr weiß. So weit meine Erinnerung
reichte, ich war immer derselbe, wie ich damals war, und hatte an
Größe und Gestalt mich nicht verändert. Ich kannte niemand, der mir
ähnlich war oder der sich die Mühe genommen hätte, sich mit mir zu
beschäftigen. Was war ich, woher kam ich? Das waren die Fragen, die
sich in mir erhoben und auf die ich keine Antwort fand als meine
Seufzer.
Wohin mich diese Gefühle brachten, will ich
nun erzählen. Aber zuerst möchte ich noch einmal von jenen Menschen
sprechen, deren Leben in mir zugleich Entrüstung, Entzücken und
Verwunderung wachrief und in denen ich in unschuldiger, wonniger
Selbsttäuschung meine Beschützer sah.
Kapitel 14
Es währte einige Zeit, ehe ich etwas aus dem Leben meiner
Freunde erfuhr.
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