Ich war ungeheuer
gespannt auf das, was ich hören sollte, teils aus wirklicher
Neugierde, teilweise aber auch, weil ich hoffte, vielleicht dadurch
einen Fingerzeig zu bekommen, wie ich, wenn
es überhaupt möglich wäre, ihm helfen könnte.
»Ich danke Ihnen,« sagte er, »für Ihre Teilnahme, aber sie ist
unnütz; mein Schicksal ist nahezu erfüllt. Ich warte nur eines ab;
wenn dies eintrifft, werde ich zur Ruhe gehen. Ich verstehe Ihre
Gefühle,« fuhr er fort, nachdem ich vergebens versucht hatte, ihn
zu unterbrechen, »aber Sie sind im Irrtum, mein Freund – wenn ich
mir erlauben darf Sie so zu nennen – wenn Sie meinen, irgend etwas
wäre imstande, mein Geschick zu ändern. Hören Sie erst meine
Geschichte und Sie werden verstehen, wie unabänderlich es
feststeht.«
Er sagte mir noch, daß er am nächsten Tage mit seiner Erzählung
beginnen wolle, wenn es meine Zeit erlaube. Dieses Versprechen
verpflichtete mich zu aufrichtigem Danke. Ich habe beschlossen,
immer nachts, wenn mich nicht gerade mein Dienst abhält, möglichst
wörtlich alles niederzuschreiben, was ich am Tage erfahren haben
werde. Zum mindesten aber werde ich mir kurze Notizen machen. Diese
Aufzeichnungen werden Dir sicher interessant sein, und mit welcher
Teilnahme werde erst ich, der ich doch alles von seinen eigenen
Lippen höre, in späteren Zeiten die Zeilen lesen. Während ich daran
denke, wie ich meiner Aufgabe gerecht werden soll, tönt in meinen
Ohren noch seine volle, melodische Stimme; ich sehe seine warmen,
melancholischen Augen auf mir ruhen, seine feinen, schmalen Hände
sich lebhaft bewegen, während sich in den Zügen seines Antlitzes
seine Seele widerspiegelt. Seltsam und schrecklich muß seine
Geschichte, furchtbar der Sturm gewesen sein, der das schöne
Lebensschiff zerbrach.
Kapitel 1
Ich bin in Genf geboren. Meine Familie ist eine der vornehmsten
dieser Stadt. Mein Vater war angesehen bei allen, die ihn kannten,
wegen seiner unbestechlichen Rechtschaffenheit und der
unermüdlichen Hingabe an seine Pflichten.
In jüngeren Jahren schon hatte er im Dienste seiner Vaterstadt
gestanden und verschiedene Umstände hatten es mit sich gebracht,
daß er lange nicht zur Gründung eines eigenen Herdes gekommen war.
Erst später hatte er geheiratet, als er die Mittaghöhe des Lebens
schon überschritten.
Da die Vorgeschichte seiner Ehe für seinen ganzen Charakter
bezeichnend ist, kann ich nicht umhin, ihrer Erwähnung zu tun.
Einer seiner intimsten Freunde war ein Kaufmann, der infolge
mißgünstiger Schicksale von der Höhe des Glückes herab in die
tiefste Armut geriet. Dieser Mann, er hieß Beaufort, war stolz und
unbeugsam und konnte es nicht ertragen, jetzt an der gleichen
Stätte arm und vergessen zu leben, wo man ihn einst wegen seines
Reichtums und seines glänzenden Auftretens besonders geehrt hatte.
Er zahlte als ehrlicher Mann noch seine Schulden und zog sich dann
mit seiner Tochter nach Luzern zurück, wo er unerkannt und armselig
sein Leben fristete. Mein Vater war ihm in aufrichtiger
Freundschaft zugetan und fühlte tiefes Erbarmen mit dem
unglücklichen Manne. Auch bedauerte er sehr den falschen Stolz, der
den Freund hinderte, seine Hilfe anzunehmen; hatte er doch gehofft,
ihm mit seinem Rat und seinem Kredit wieder auf die Beine helfen zu
können.
Tatsächlich hielt sich Beaufort dermaßen sorgfältig verborgen,
daß es meinem Vater erst nach Verlauf von zehn Monaten gelang, ihn
ausfindig zu machen. Überwältigt von der Freude, die ihm diese
Entdeckung bereitet hatte, eilte er nach dem Hause, das in einer
schmalen Gasse in der Nähe der Reuß lag. Aber schon bei seinem
Eintritt wurde ihm klar, daß er eine Stätte der Not und des Elendes
vor sich sah. Beaufort hatte aus seinem Zusammenbruch nur eine ganz
unbedeutende Summe gerettet, aber sie hätte wenigstens genügt, ihn
einige Monate zu erhalten. In dieser Zeit hoffte er in einem
Kaufhause eine Stellung zu finden. Die erzwungene Untätigkeit gab
ihm Zeit, noch mehr über das nachzudenken, was aus ihm geworden,
und vertiefte seinen Gram, so daß er schließlich nach drei Monaten
aufs Krankenbett sank.
Seine Tochter pflegte ihn mit der äußersten
Hingabe, aber sie konnte es sich nicht verhehlen, daß ihr kleines
Kapital rapid dahinschwand und daß dann keine Hoffnung auf irgend
eine Unterstützung bestand. Aber Karoline Beaufort besaß eine
ungewöhnliche Spannkraft und ihr Mut wuchs in diesen
Widerwärtigkeiten. Sie versah die ganze Arbeit und vermochte durch
Strohflechtereien wenigstens so viel zu verdienen, daß sie beide
gerade noch notdürftig ihr Leben zu fristen imstande waren.
Einige Monate vergingen in dieser Weise. Ihr Vater wurde immer
elender, so daß sie von seiner Pflege ausschließlich in Anspruch
genommen wurde. Die letzten Notpfennige waren bald ausgegeben und
im zehnten Monat starb ihr Vater in ihren Armen, sie als bettelarme
Waise zurücklassend. Dieser letzte Schlag war der härteste für sie;
sie kniete gerade bitterlich weinend am Sarge Beauforts, als mein
Vater eintrat. Er kam wie ein rettender Engel zu dem armen Mädchen
und vertrauensvoll legte sie ihr Geschick in seine helfenden Hände.
Nach der Beerdigung seines Freundes brachte er Karoline nach Genf
und gab sie dort Verwandten zur Obhut. Zwei Jahre später war sie
seine Frau.
Der Altersunterschied meiner beiden Eltern war zwar sehr
bedeutend, aber gerade das schien die Liebe, die sie zu einander
hegten, nur zu vertiefen. Mein Vater besaß ein ausgeprägtes
Gerechtigkeitsgefühl, das ihn nur da wirklich lieben ließ, wo er
auch seine Achtung geben konnte. Vielleicht hatte er in seinen
früheren Jahren irgend eine Erfahrung in dieser Hinsicht gemacht
und legte deshalb so viel Wert auf den inneren Wert. Er zeigte für
meine Mutter eine Verehrung, die sich von der schwächlichen Liebe
älterer Leute wohl unterschied und die aus wirklicher Hochachtung
vor ihr entsprang und vielleicht auch aus dem Wunsche, sie für all
das Leid zu entschädigen, das ihr ihre Jugend gebracht.
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