Ich bewundere und bemitleide ihn zugleich. Wie wäre es
möglich, ein so edles Geschöpf von Gram verzehrt zu sehen, ohne
selbst den tiefsten Schmerz mitzuempfinden? Er ist so gut und dabei
klug, auch ist er außerordentlich gebildet und spricht wohlgesetzt
und gewandt.
Er hat sich jetzt von seiner Krankheit ziemlich erholt und hält
sich unausgesetzt auf Deck auf, offenbar um den Schlitten nicht zu
übersehen, auf den er immer noch wartet. Er ist
unglücklich, aber in all seinem Elend hat
er doch immer noch Interesse für die Pläne der andern. Er hat viel
mit mir über den meinigen gesprochen, den ich ihm rückhaltlos
dargelegt habe. Aufmerksam folgte er allem, was ich im Sinne eines
glücklichen Ausganges meines Unternehmens vorzubringen wußte, und
vertiefte sich mit mir bis in die Details der Maßnahmen, die ich
getroffen. Er hatte mir so viel Sympathie eingeflößt, daß ich offen
mit ihm reden mußte. Ich ließ ihn in meine leidenschaftliche Seele
blicken und sagte ihm auch, daß ich gern mein ganzes Vermögen,
meine Existenz, meine Zukunft aufs Spiel setze, um mein Unternehmen
zu einem guten Ausgange zu führen. Leben oder Tod eines Mannes
seien ja gar nichts im Vergleich zu dem, was der Wissenschaft durch
mein Unternehmen genützt werde. Während ich sprach, überzog eine
dunkle Glut das Antlitz meines Zuhörers. Ich bemerkte, daß er
anfänglich sich bemühte, seine Bewegung zu meistern. Er hielt die
Hände vor das Gesicht, und meine Stimme bebte und stockte, als ich
sah, daß Tränen zwischen seinen Fingern niederrannen, als ich
hörte, wie ein wehes Stöhnen sich seiner Brust entrang. Ich hielt
inne, da sagte er mit gebrochener Stimme: »Unglücklicher! Hat Sie
derselbe Wahnsinn erfaßt wie mich? Haben auch Sie von dem Gifte
getrunken? Hören Sie mich an, lassen Sie mich meine Geschichte
berichten und Sie werden den Becher mit dem unheilvollen Trank von
Ihren Lippen wegstoßen.«
Du kannst Dir denken, daß diese Worte meine ganze Neugier
erregten. Aber das Übermaß des Schmerzes hatte die schwachen Kräfte
des Fremden übermannt und es bedurfte vieler Stunden der Ruhe und
sanfter Überredung, um ihn wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Nachdem er seiner heftigen Gefühle Meister geworden war, schämte
er sich, daß seine Leidenschaft ihn so überwältigt hatte. Er
unterdrückte mit Gewalt seine Verzweiflung und veranlaßte mich,
über mich selbst zu sprechen. Er frug nach meiner Kindheit. Diese
war rasch erzählt, aber dennoch gab sie verschiedene
Anknüpfungspunkte. Ich sprach von meinem Wunsche, einen Freund zu finden, von meiner Sehnsucht nach einer
gleichgestimmten Seele, die ich nie mein eigen nennen durfte, und
gab meiner Überzeugung Ausdruck, daß niemand wahres Glück genossen
habe, der sich nicht echter Freundschaft rühmen könne.
»Ich bin ganz Ihrer Ansicht,« entgegnete der Fremde. »Wir sind
nur halbe Geschöpfe, wenn uns nicht ein Weiserer, Besserer – und
das muß ja ein Freund sein – zur Seite steht, um unsere schwache,
fehlerhafte Natur zu verbessern. Ich hatte einmal einen Freund, den
edelsten Menschen, den man sich denken kann, und habe deshalb ein
gewisses Recht mitzusprechen, wenn von Freundschaft die Rede ist.
Sie sind noch voller Hoffnung und haben die Welt vor sich und
deshalb keinen Grund zu verzweifeln. Aber ich – ich habe alles
verloren und keinen Mut mehr, von vorn anzufangen.«
Als er das sagte, nahm sein Gesicht einen gramvollen Ausdruck
an, der mir bis ins Herz hinein weh tat. Aber er sprach nicht
weiter und zog sich in seine Kajüte zurück.
Trotz seines Leides hegt er eine tiefe, innige Liebe zur Natur.
Der sternenbesäte Himmel, das Meer und alle Wunder dieser
herrlichen Regionen schienen erhebend auf seine Seele zu wirken.
Ein solcher Mensch hat eigentlich eine doppelte Existenz: er mag
leiden und sich grämen, aber wenn er sich in sich selbst
zurückzieht, dann ist er wie ein himmlischer Geist, den ein
Heiligenschein umgibt, den Leid und Schmerz nicht zu verdunkeln
vermögen.
Lächle nur über den Enthusiasmus, mit dem ich von diesem
prächtigen Menschen erzähle. Wenn Du ihn kenntest, würdest Du nicht
lächeln. Ich weiß, Deine feine Erziehung und die Zurückgezogenheit
Deines Lebens haben Dich wählerisch gemacht; aber gerade das würde
Dich besonders geeignet machen, das Außerordentliche an diesem
Menschen zu erkennen und zu schätzen. Ich habe mich schon öfter
bemüht, mir klar zu werden, was es ist, das ihn so himmelhoch über
alle anderen Menschen erhebt. Ich glaube, vor allem ist es sein
mehr als natürlicher Scharfsinn, eine nie fehlende Urteilskraft,
eine Erkenntnis der Ursachen aller Dinge.
Stelle Dir nun noch vor, daß er die Gabe besitzt, sich glänzend,
dabei klar und präzis auszudrücken und daß seine Stimme eine
außergewöhnliche Modulationsfähigkeit hat, so wirst Du begreifen,
daß dieser Mann imstande ist, jemand zu bestricken.
19. August
18..
Gestern sagte der Fremde zu mir: »Sie haben sicherlich erkannt,
Kapitän Walton, daß mich großes, unsagbares Leid betroffen hat. Ich
hatte schon beschlossen, daß die Erinnerung daran mit mir ins Grab
steigen solle; aber Sie haben mich so weit gebracht, daß ich meinem
Entschluß untreu geworden bin. Sie suchen, wie ich einst, nach
Wissen und Weisheit und ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen, daß
dieses Streben Ihnen nicht, wie mir, zum fürchterlichsten Fluche
werde. Ich weiß nicht, ob Ihnen die Erzählung meiner Leiden von
Nutzen sein wird; wenn ich aber bedenke, daß Sie denselben Weg
gehen wie ich, sich denselben Gefahren aussetzen, die mich zu dem
machten, was ich jetzt bin, so kommt mir die Überzeugung, daß Sie
aus meiner Erzählung doch eine Moral zu ziehen vermögen; eine Moral
für den Fall, daß Sie Erfolg mit Ihren Bestrebungen haben, wie auch
für den Fall, daß Sie enttäuscht werden. Bereiten Sie sich darauf
vor Dinge zu hören, die Sie als unglaublich bezeichnen möchten.
Wären wir in kultivierteren Zonen der Erde, ich würde mich besinnen
zu erzählen, weil ich fürchten müßte, daß Sie mir nicht glauben
oder mich gar verlachen könnten; aber in diesen wilden,
geheimnisvollen Regionen wird Ihnen manches möglich erscheinen, was
solche, die mit den immer wechselnden Kräften der Natur nicht
vertraut sind, zum Spotte reizen würde.« – Du kannst Dir denken,
daß ich dankbar und erfreut das Angebot annahm, wenn ich mir auch
sagen mußte, daß durch die Erzählung sein Leid wieder lebendiger,
die Wunden nur wieder aufgerissen würden.
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