Franz sah auch hin und erstaunte über die Schönheit und rührende Bedeutsamkeit seiner Figuren, sie waren nicht mehr die seinigen, sondern er empfand eine Ehrfurcht, einen andächtigen Schauer vor dem Gemälde. Es schien, als wenn sich unter den Orgeltönen die Farbengebilde bewegten und sprächen und mitsängen, als wenn die fernen Engel näher kämen, und jeden Zweifel, jede Bangigkeit mit ihren Strahlen aus dem Gemüte hinwegleuchteten, er empfand eine unaussprechliche Wonne in dem Gedanken ein Christ zu sein. Von dem Bilde glitt dann sein Blick nach dem grünen Kirchhofe vor der Türe hin, und es war ihm, als wenn Baum und Gesträuch außerhalb auch mit Frömmigkeit beteten, und unter der umarmenden Andacht ruhten. Aus den Gräbern schienen leise Stimmen der Abgeschiedenen herauszusingen, und mit Geistersprache den ernsten Orgeltönen nachzueilen; die Bäume jenseit des Kirchhofs standen betrübt und einsam da, und hoben ihre Zweige wie gefaltete Hände empor, und freundlich legten sich durch die Fenster die Sonnenstrahlen weit in die Kirche hinein. Die unförmlichen steinernen Bilder an der Mauer waren nicht mehr stumm, die fliegenden Kinder, mit denen die Orgel verziert war, schienen in lieber Unschuld auf ihrer Leier zu spielen, um den Herrn, den Schöpfer der Welt zu loben.

Sternbalds Gemüt ward mit unaussprechlicher Seligkeit angefüllt, er empfand zum ersten Male den harmonischen Einklang aller seiner Kräfte und Gefühle, ihn ergriff und beschirmte der Geist, der die Welt regiert und in Ordnung hält, er gestand es sich deutlich, wie die Andacht der höchste und reinste Kunstgenuß sei, dessen unsre menschliche Seele nur in ihren schönsten und erhabensten Stunden fähig ist. Die ganze Welt, die mannigfaltigsten Begebenheiten, Unglück und Glück, das Niedre und Hohe, alles schien ihm in diesen Augenblicken zusammenzufließen, und sich selbst nach einem kunstmäßigen Ebenmaße zu ordnen. Tränen flossen ihm aus den Augen, und er war mit sich, mit der Welt, mit allem zufrieden.

Schon in Nürnberg war es oft für ihn eine Erquickung gewesen, sich aus dem Getümmel des Marktes und des verworrenen geräuschvollen Lebens in eine stille Kirche zu retten: da hatte er oft gestanden, die Pfeiler und das erhabene Gewölbe betrachtet, und das Gewühl vergessen, er hatte es immer empfunden, wie diese heilige Einsamkeit auf jedes Gemüt gut wirken müsse, aber noch nie hatte er diese reine, erhabne Entzückung genossen.

Die Orgel schwieg, und man vernahm aus der Ferne über die Wiese her das Schnauben von Pferden und einen schnellrollenden Wagen. Franz hob seine Augen auf; in demselben Augenblick eilte das Fuhrwerk der Kirche vorüber, ein Rad fuhr ab, der Wagen stürzte, und zwei junge Mädchen und ein alter Mann waren im Begriff zu fallen, als Franz schon hinzugeeilt war und den Wagen hielt, indem der Fuhrmann die Pferde hemmte. Die Schönste und, wie es schien, die Herrin der übrigen, lag in seinen Armen, ihr Kopf ruhte an seinem Gesicht, geringelte blonde Haare, die durch den plötzlichen Sturz sich unter einer reichen Goldhaube losgemacht hatten, waren wie ein glänzendes Netz um beide gespreitet, aus dem grünen Atlasmantel wogte nahe an ihm ein blendend weißer Busen in heftiger Bewegung des Erschreckens. Endlich erhob sie das durchdringlich blaue Auge und dankte ihm lächelnd. Alle stiegen ab, und Franz war geschäftig, die Fremden zu bedienen, indessen der Fuhrmann seinen Wagen wieder einrichtete. Die schöne Fremde betrachtete unsern Freund aufmerksam, er schien mehr erschrocken als sie, er bat sie mir gerührtem Ton, sich zu erholen. Er wußte nicht, was er sagen sollte; die blauen Augen des Mädchens begegneten ihm und er errötete, der alte Mann sprach mit der Dienerin. Die Fremde lehnte sich auf seinen Arm, wie ermüdet, und so traten sie in die Kirche ein; sie ließ sich auf ein Knie nieder und bekreuzte sich, nach dem Altar gewendet, sehr andächtig, was der Gemeine auffiel, dann erhob sie sich und sagte: »Welch ein herrliches, rührendes Altarbild!« »Ja wohl«, sagte Franz, außer sich vor Entzücken, und sie fuhr fort: »Gewiß von Dürer, oder einem seiner Schüler, herrliche Werke haben die Deutschen hervorgebracht.« Franz verstummte und zitterte. Indes war der Wagen wieder instand gesetzt, sie schritten wieder aus der Kirche, und Franz ängstete sich, daß sie nun wieder abreisen würde; noch gingen sie unter den duftenden Bäumen auf und ab, und der Gesang scholl ihnen aus der Kirche entgegen. Nun stiegen die Fremden wieder auf, der junge Maler fühlte sein Herz heftig schlagen, die holde Gestalt dankte ihm noch einmal, und nun flog der Wagen fort. Er sah ihnen nach, so weit er konnte; jetzt nahten sie einem fernen Gebüsche, der Wagen verschwand, er war wie betäubt.

Als er wieder zu sich erwachte, sah er im Grase, wo er gestanden hatte, eine kleine zierliche Brieftasche liegen. Er nahm sie schnell auf und entfernte sich damit; es war kein Zweifel, daß sie der Fremden gehören müsse. Es war unmöglich, dem Wagen nachzueilen, er hatte auch nicht gefragt, wohin sie sich wenden wolle, und ebensowenig wußte er den Namen der Reisenden. Alles dies beunruhigte ihn erst jetzt, als er die Brieftasche in seinen Händen hielt. Er mußte sie behalten, und wie teuer war sie ihm! Er wagte es nicht, sie zu eröffnen, sondern eilte mit ihr seinem geliebten Walde zu; hier setzte er sich auf dem Platze nieder, der ihm so heilig war, hier machte er sie mit zitternden Händen auf, und das erste, was ihm in die Augen fiel, war ein Gebinde wilder vertrockneter Blumen. Er blickte um sich her, er besann sich, ob es ein Traum sein könne, er konnte sich nicht zurückhalten, er küßte die Blumen und weinte heftig: innerlich ertönte der Gesang des Waldhorns, den er in der Kindheit gehört hatte.

Auf einem Blättchen stand geschrieben: »Diese Blümchen erhielt ich von dem schönsten und freundlichsten Knaben, als ich sechs Jahr alt, meine erste Reise über Mergentheim machte.«

»So bist du es gewesen, mein Genius, mein schützender Engel!« rief er aus. »Du bist mir wieder vorüber gegangen, und ich kann mich nicht finden, ich kann mich nicht zufriedengeben. Auf diesem Platze hier sind diese Blumen gewachsen, schon vierzehn Sommer sind indessen über die Erde gegangen, und auf diesem Platze halte ich nach so langer Zeit das teure Geschenk wieder in meinen Händen. Du warst es, Botin des Himmels, für die ich mein erstes Bild aufgestellt habe, dein Auge mußte es erleuchten, deinen Wohlgefallen hat es erregt, und du hast dein Knie in frommer Herzensdemut davor geneigt. O wann werd ich dich wiedersehen? Kann es Zufall sein, daß du mir wieder begegnet bist?«

Es gibt Stunden, in denen das Leben einen gewaltsamen, schnellen Anlauf nimmt, wo die Blüten plötzlich aufbrechen und alles sich in und um den Menschen verändert. Dieser Tag war für Sternbald ein solcher; er konnte sich gar nicht wieder erholen, er wünschte nichts und dürstete doch nach den wunderbarsten Begebenheiten, er sah über seine Zukunft wie über ein glänzendes Blumenfeld hin, und doch genügte ihm keine Freude, er war unzufrieden mit allem, was da kommen konnte, und doch fühlte er sich so überselig.

Außerdem enthielt das Taschenbuch nichts, woraus er den Namen oder den Aufenthalt der wunderbaren Fremden, mit der er doch so vertraut zu sein wähnte, hätte erfahren können. Auf der einen Seite stand:

 

»zu Antwerpen ein schönes Bild von Lukas von Leyden gesehn.«

 

und dicht darunter:

 

»ebendaselbst, ein unbeschreibliches schönes Kruzifix vom großen Albert Dürer.«

 

Er küßte das Blatt zu wiederholten Malen, er konnte heut seine Empfindungen durchaus nicht bemeistern. Es war ihm zu seltsam und zu erfreulich, daß die Engelsgestalt, die er so fernab im Traume seiner Kindheit gesehen hatte, seinen Dürer verehrte, den er so genau kannte, dessen Freund er war, daß sie ihn durch ihr Lob seines ersten Gemäldes zum Künstler geweiht hatte. Sein Schicksal schien ein wunderbarer Einklang von Gesängen, er konnte nicht genug darüber sinnen, ja er konnte an diesem Tage vor Entzücken nicht müde werden.

 

Achtes Kapitel

 

Franz hatte seinem Sebastian diese Begebenheiten geschrieben, die ihm so merkwürdig waren; es war nun die Zeit verflossen, die er seinem Aufenthalte in seinem Geburtsorte gewidmet hatte, und er besuchte nur noch einmal die Plätze, die ihm in seiner Kindheit so bekannt geworden waren: dann nahm er Abschied von seiner Mutter.

Er war wieder auf dem Wege, und nach einiger Zeit schrieb er seinem Freunde noch einen zweiten Brief:

 

Liebster Bruder!

 

Manchmal frage ich mich selbst mit der größten Ungewißheit, was aus mir werden soll.