Dann hätte ich dich gar nicht geboren und brauchte mich jetzt von dir nicht zur Rechenschaft ziehen zu lassen.
FRANZISKA. Dann hätte ich aber doch vielleicht einen anderen Vater oder eine andere Mutter bekommen.
MUTTER. Das würdest du natürlich als einen großen Vorzug betrachten.
FRANZISKA. Wie soll ich das wissen?
MUTTER. Unser Papa war ein bedeutender Mensch. Du kannst das gar nicht beurteilen. Aber für ein Gespräch über Herzenssachen war er nie zu haben. Er wurde sofort mißtrauisch, als wollte man ihm den Boden unter den Füßen wegziehen. Er hatte seine[11] Grundsätze, an denen niemand auf Gottes Welt etwas bemängeln konnte. Hättest du nur wenigstens seine Grundsätze geerbt. Dann ständest du jetzt anders vor mir. Dein Gemütsleben ist ja leider genau so arm, wie es bei deinem Vater war.
FRANZISKA. Wenn ihr euch nie über Herzenssachen ausgesprochen habt, dann ist es schließlich auch kein Wunder, daß wir Kinder nicht das geringste davon wissen.
MUTTER. Du bist unter deinen Geschwistern in dieser Hinsicht jedenfalls am schlimmsten weggekommen.
FRANZISKA. Das weiß ich. Es würde mich auch gar nicht überraschen, wenn ich eines Tages verrückt würde oder irgendein Verbrechen beginge.
MUTTER. Da hat man wieder deine heillose Selbstüberhebung! Das ist alles nichts anderes als Großtuerei. Wenn du dich etwas mehr für das Wohl deiner Mitmenschen opfern wolltest, dann hättest du einfach keine Zeit, dich immer nur mit dir selbst zu beschäftigen. Dann fände sich sicher auch ein ehrlicher, anständiger Mensch, der dich heiraten würde, trotz allem, was geschehen ist. Und du brauchtest dich nicht an einen gewissenlosen Lebemann zu[12] hängen, der sich deine Jugend schmecken läßt, um dich nachher im Schmutze verkommen zu lassen. Aber welcher rechtschaffene Kerl heiratet denn ein Mädchen, das des Nachts Spaziergänge unternimmt und sich tagsüber nicht von seinem Spiegel losreißen kann. Ich mag dir gar nicht aussprechen, wie widerwärtig du mir bist, wenn ich dich stundenlang vor deinem Spiegel Gesichter schneiden sehe.
FRANZISKA. Vater und du, ihr seid in meinen Augen heute noch die beiden besten, klügsten, edelsten Menschen, die auf dieser Welt je gelebt haben. Wenn es euch beiden nicht möglich war, eine glückliche Ehe zu führen, dann gibt es überhaupt kein eheliches Glück. In die Sölle einzutreten, in der ihr, solange ich denken kann, gestöhnt und geschrien habt, dafür bedanke ich mich. Einfältige, beschränkte, dumme Menschen fühlen sich offenbar in der Ehe glücklich. Ich bin auf meine Herkunft zu stolz, als daß ich zu ihnen hinabsteigen möchte.
MUTTER. Du könntest diese unseligen Geschichten endlich einmal vergessen. Du bewahrst dir diese Erinnerungen nur, um deine Geilheit und Liederlichkeit damit zu entschuldigen. In Wirklichkeit war das alles gar nicht so fürchterlich, wie du es jetzt darstellst.[13]
FRANZISKA.
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