Jetzt durfte er die Stunden der Mahlzeiten selber bestimmen, konnte gehen und kommen, ohne Rechenschaft darüber geben zu müssen, und wenn er müde war, alle vier von sich strecken und sich in seinem Bette breit machen. Er hegte und pflegte sich und ließ alle Tröstungen über sich ergehen. Übrigens hatte der Tod seiner Frau keine ungünstige Wirkung auf seinen Beruf als Arzt. Indem man wochenlang in einem fort sagte: „Der arme Doktor. Wie traurig!“ blieb sein Name im Munde der Leute. Seine Praxis vergrößerte sich. Und dann konnte er nun nach Bertaux reiten, wann es ihm beliebte. Eine unbestimmbare Sehnsucht wuchs in ihm auf, ein namenloses Glücksgefühl. Wenn er sich im Spiegel betrachtete und sich den Bart strich, fand er sich gar nicht übel.
Eines schönen Tages kam er nachmittags gegen drei Uhr im Gute angeritten. Alles war draußen auf dem Felde. Er betrat die Küche. Emma war drinnen, aber er bemerkte sie zunächst nicht. Die Fensterläden waren geschlossen. Durch die Ritzen des Holzes stachen die Sonnenstrahlen mit langen dünnen Nadeln auf die Fliesen, oder sie brachen sich an den Kanten der Möbel entzwei und wirbelten hinauf zur Decke. Auf dem Küchentische krabbelten Fliegen an den Gläsern hinauf, purzelten summend in die Apfelweinneigen und ertranken. Das Sonnenlicht, das durch den Kamin eindrang, verwandelte die rußige Herdplatte in eine Samtfläche und färbte den Aschehaufen blau. Emma saß zwischen dem Fenster und dem Herd und nähte. Sie hatte kein Halstuch um, und auf ihren entblößten Schultern glänzten kleine Schweißperlen.
Nach ländlichem Brauch bot sie dem Ankömmling einen Trunk an. Als er ihn ausschlug, nötigte sie ihn, und schließlich bat sie ihn lachend, ein Gläschen Likör mit ihr zu trinken. Sie holte aus dem Schranke eine Flasche Curaçao, suchte zwei Gläser heraus, füllte das eine bis zum Rande und goß in das andre ein paar Tropfen. Sie stieß mit Karl an und führte dann ihr Glas zum Munde. Da soviel wie nichts drin war, mußte sie sich beim Trinken zurückbiegen. Den Kopf nach hinten gelegt, die Lippen zugespitzt, den Hals gestrafft, so stand sie da und lachte darüber, daß ihr nichts auf die Zunge lief, obgleich diese mit der Spitze aus den feinen Zähnen herausspazierte und bis an den Boden des Glases mehreremals suchend vorstieß.
Emma nahm wieder Platz und begann sich von neuem ihrer Handarbeit zu widmen. Ein weißer baumwollener Strumpf war zu stopfen. Mit gesenkter Stirn saß sie da. Sie sagte nichts und Karl erst recht nichts. Der Luftzug, der sich zwischen Tür und Schwelle eindrängte, wirbelte ein wenig Staub von den Fliesen auf. Karl sah diesem Tanze der Atome zu. Dabei hörte er nichts als das Hämmern seines Blutes im eignen Hirne und aus der Ferne das Gackern einer Henne, die irgendwo im Hofe ein Ei gelegt hatte. Hin und wieder hielt Emma die Handflächen ihrer Hände auf den kalten Knauf der Herdstange und preßte sie dann an ihre Wangen, um diese zu kühlen.
Sie klagte über die Schwindelanfälle, von denen sie seit Frühjahrsanfang heimgesucht wurde, und fragte, ob ihr wohl Seebäder dienlich wären.
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