Er erinnerte sich des Tages, wo er mit ihr das Haus des Schwiegervaters verlassen hatte. Auf dem Ritt in das eigne Heim, durch den tiefen Schnee, da hatte er seine Frau hinten auf die Kruppe seines Pferdes gesetzt. Es war so um Weihnachten herum gewesen, und die ganze Gegend war verschneit. Mit der einen Hand hatte sie sich an ihm festgehalten, in der andern ihren Korb getragen. Die langen Bänder ihres normannischen Kopfputzes hatten im Winde geflattert, und manchmal waren sie ihm um die Nase geflogen. Und wenn er sich umdrehte, sah er über seine Schulter weg ganz dicht hinter sich ihr niedliches rosiges Gesicht, das unter der Goldborte ihrer Haube still vor sich hinlächelte. Wenn sie an die Finger fror, steckte sie die Finger eine Weile in seinen Rock, ihm dicht an die Brust ... Wie lange war das nun her! Wenn ihr Sohn am Leben geblieben wäre, dann wäre er jetzt dreißig Jahre alt!
Er blickte sich nochmals um. Auf der Straße war nichts mehr zu sehen. Da ward ihm unsagbar traurig zumute. In seinem von dem vielen Essen und Trinken beschwerten Hirne mischten sich die zärtlichen Erinnerungen mit schwermütigen Gedanken. Einen Augenblick lang verspürte er das Verlangen, den Umweg über den Friedhof zu machen. Aber er fürchtete sich davor, daß ihn dies nur noch trübseliger stimmte, und so ging er auf dem kürzesten Wege nach Hause.
Karl und Emma erreichten Tostes gegen sechs Uhr. Die Nachbarn stürzten an die Fenster, um die junge Frau Doktor zu erspähen. Die alte Magd empfing sie unter Glückwünschen und bat um Entschuldigung, daß das Mittagessen noch nicht ganz fertig sei. Sie lud die gnädige Frau ein, einstweilen ihr neues Heim in Augenschein zu nehmen.
Fünftes Kapitel
Die Backsteinfassade des Hauses stand gerade in der Fluchtlinie der Straße, genauer gesagt: der Landstraße. In der Hausflur, gleich an der Haustüre, hingen an einem Halter ein Kragenmantel, ein Zügel, eine Mütze aus schwarzem Leder, und in einem Winkel auf dem Fußboden lagen ein paar Gamaschen, voll von trocken gewordnem Straßenschmutz. Rechter Hand lag die „Große Stube“, das heißt der Raum, in dem die Mahlzeiten eingenommen wurden und der zugleich als Wohnzimmer diente. An den Wänden bauschte sich allenthalben die schlecht aufgeklebte zeisiggrüne Papiertapete, die an der Decke durch eine Girlande von blassen Blumen abgeschlossen ward. An den Fenstern überschnitten sich weiße Kattunvorhänge, die rote Borten hatten. Auf dem schmalen Sims des Kamins funkelte eine Stutzuhr mit dem Kopfe des Hippokrates zwischen zwei versilberten Leuchtern, die unter ovalen Glasglocken standen.
Auf der andern Seite der Flur lag Karls Sprechzimmer, ein kleines Gemach, etwa sechs Fuß in der Breite. Drinnen ein Tisch, drei Stühle und ein Schreibtischsessel. Die sechs Fächer eines Büchergestells aus Tannenholz wurden in der Hauptsache durch die Bände des „Medizinischen Lexikons“ ausgefüllt, die unaufgeschnitten geblieben waren und durch den mehrfachen Besitzerwechsel, den sie bereits erlebt hatten, zerfledderte Umschläge bekommen hatten. Durch die dünne Wand drang Buttergeruch aus der benachbarten Küche in das Sprechzimmer, während man dort hören konnte, wenn die Patienten husteten und ihre langen Leidensgeschichten erzählten.
Nach dem Hofe zu, wo das Stallgebäude stand, lag ein großes verwahrlostes Gemach, ehemals Backstube, das jetzt als Holzraum, Keller und Rumpelkammer diente und vollgepfropft war mit altem Eisen, leeren Fässern, abgetanenem Ackergerät und einer Menge andrer verstaubter Dinge, deren einstigen Zweck man ihnen kaum mehr ansehen konnte.
Der Garten, der mehr in die Länge denn in die Breite ging, dehnte sich zwischen zwei Lehmmauern mit Aprikosenspalieren; hinten begrenzte ihn eine Dornhecke und trennte ihn vom freien Felde. Mitten im Garten stand ein gemauerter Sockel mit einer Sonnenuhr darauf, auf einer Schieferplatte. Vier Felder mit dürftigen Heckenrosen umgürteten symmetrisch ein Mittelbeet mit nützlicherem Gewächs. Ganz am Ende des Gartens, in einer Fichtengruppe, stand eine Tonfigur: ein Mönch, in sein Brevier vertieft.
Emma stieg die Treppe hinauf. Das erste Zimmer oben war überhaupt nicht möbliert, aber im zweiten, der gemeinsamen Schlafstube, stand in einer Nische mir roten Vorhängen ein Himmelbett aus Mahagoniholz. Auf einer Kommode thronte eine mit Muscheln besetzte kleine Truhe, und auf dem Schreibpult am Fenster leuchtete in einer Kristallvase ein Strauß von Orangenblüten, umwunden von einem Seidenbande: ein Hochzeitsbukett, die Brautblumen der andern! Emma betrachtete sie. Karl bemerkte es, nahm den Strauß aus der Vase und trug ihn auf den Oberboden.
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