Er verehrte seine Mutter, und seine Frau liebte er auf seine Art über alle Maßen. Was die eine sagte, galt ihm für unfehlbar; gleichwohl fand er an der andern nichts auszusetzen. Wenn Frau Bovary wieder abgereist war, machte er schüchterne Versuche, die oder jene ihrer Bemerkungen wörtlich zu wiederholen. Emma bewies ihm dann mit wenigen Worten, daß er im Irrtum sei, und meinte, er solle sich lieber seinen Patienten widmen.

Immerhin versuchte sie nach Theorien, die ihr gut schienen, Liebesstimmung nach ihrem Geschmack zu erregen. Wenn sie bei Mondenschein zusammen im Garten saßen, sagte sie verliebte Verse her, soviel sie nur auswendig wußte, oder sie sang eine schwermütige gefühlvolle Weise. Aber hinterher kam sie sich selber nicht aufgeregter als vorher vor, und auch Karl war offenbar weder verliebter noch weniger stumpfsinnig denn erst.

Das waren vergebliche Versuche, eine große Leidenschaft zu entfachen. Im übrigen war Emma unfähig, etwas zu verstehen, was sie nicht an sich selber erlebte, oder an etwas zu glauben, was nicht offen zutage lag. Und so redete sie sich ohne weiteres ein, Karls Liebe sei nicht mehr übermäßig stark. In der Tat gewannen seine Zärtlichkeiten eine gewisse Regelmäßigkeit. Er schloß seine Frau zu ganz bestimmten Stunden in seine Arme. Es ward das eine Gewohnheit wie alle andern, gleichsam der Nachtisch, der kommen muß, weil er auf der Menükarte steht.

Ein Waldwärter, den der Herr Doktor von einer Lungenentzündung geheilt hatte, schenkte der Frau Doktor ein junges italienisches Windspiel. Sie nahm es mit auf ihre Spaziergänge. Mitunter ging sie nämlich aus, um einmal eine Weile für sich allein zu sein und nicht in einem fort bloß den Garten und die staubige Landstraße vor Augen zu haben.

Sie wanderte meist bis zum Buchenwäldchen von Banneville, bis zu dem leeren Lusthäuschen, das an der Ecke der Parkmauer steht, wo die Felder beginnen. Dort wuchs in einem Graben zwischen gewöhnlichen Gräsern hohes Schilf mit langen scharfen Blättern. Jedesmal, wenn sie dahin kam, sah sie zuerst nach, ob sich seit ihrem letzten Hiersein etwas verändert habe. Es war immer alles so, wie sie es verlassen hatte. Alles stand noch auf seinem Platze: die Heckenrosen und die wilden Veilchen, die Brennesseln, die in Büscheln die großen Kieselsteine umwucherten, und die Moosflächen unter den drei Pavillonfenstern mit ihren immer geschlossenen morschen Holzläden und rostigen Eisenbeschlägen. Nun schweiften Emmas Gedanken ins Ziellose ab, wie die Sprünge ihres Windspiels, das sich in großen Kreislinien tummelte, gelbe Schmetterlinge ankläffte, Feldmäusen nachstellte und die Mohnblumen am Raine des Kornfeldes anknabberte. Allmählich gerieten ihre Grübeleien in eine bestimmte Richtung. Wenn die junge Frau so im Grase saß und es mit der Stockspitze ihres Sonnenschirmes ein wenig aufwühlte, sagte sie sich immer wieder: „Mein Gott, warum habe ich eigentlich geheiratet?“

Sie legte sich die Frage vor, ob es nicht möglich gewesen wäre durch irgendwelche andre Fügung des Schicksals, daß sie einen andern Mann hätte finden können. Sie versuchte sich vorzustellen, was für ungeschehene Ereignisse dazu gehört hätten, wie dieses andre Leben geworden wäre und wie der ungefundne Gatte ausgesehen hätte. In keinem Falle so wie Karl! Er hätte elegant, klug, vornehm, verführerisch aussehen müssen; so wie zweifellos die Männer, die ihre ehemaligen Klosterfreundinnen alle geheiratet hatten ... Wie es denen wohl jetzt erging? In der Stadt, im Getümmel des Straßenlebens, im Stimmengewirr der Theater, im Lichtmeere der Bälle, da lebten sie sich aus und ließen die Herzen und Sinne nicht verdorren. Sie jedoch, sie verkümmerte wie in einem Eiskeller, und die Langeweile spann wie eine schweigsame Spinne ihre Weben in allen Winkeln ihres sonnelosen Herzens.

Die Tage der Preisverteilung traten ihr in die Erinnerung. Sie sah sich auf das Podium steigen, wo sie ihre kleinen Auszeichnungen ausgehändigt bekam. Mit ihrem Zopf, ihrem weißen Kleid und ihren Lack-Halbschuhen hatte sie allerliebst ausgesehen, und wenn sie zu ihrem Platze zurückging, hatten ihr die anwesenden Herren galant zugenickt. Der Klosterhof war voller Kutschen gewesen, und durch den Wagenschlag hatte man ihr „Auf Wiedersehn!“ zugerufen. Und der Musiklehrer, den Violinkasten in der Hand, hatte im Vorübergehen den Hut vor ihr gezogen ... Wie weit zurück war das alles! Ach, wie so weit!

Sie rief Djali, nahm ihn auf den Schoß und streichelte seinen schmalen feinlinigen Kopf.

„Komm!“ flüsterte sie. „Gib Frauchen einen Kuß! Du, du hast keinen Kummer!“

Dabei betrachtete sie das ihr wie wehmütig aussehende Gesicht des schlanken Tieres.