Er wußte ganz sicher, daß die Baronin Veitor eine geplagte Frau war und daß ihr der »Ichor« in ihren Adern das Dasein keineswegs gemütlicher machte. Die so weit über ganz Europa verbreitete Blutsverwandtschaft gab nichts auf den Ichor, sie ärgerte sich sogar dann und wann an dem Ichor, sie ließ es die Kusine häufig merken, daß der Ichor keinen Kurs bei ihr habe. »Was tue ich mit dem Ichor?« fragte die Verwandtschaft; und die Frau Salome, die, wenn sie in Leidenschaft geriet, sofort immer in den jüdischen Akzent und Inversionsredestil fiel, sagte zu ihrem guten Freunde:

»Es ist immer dasselbe gewesen mit mir und es wird mit mir bleiben immer das nämliche. Ich habe in einer feinen Wiege gelegen –«

»Meine Wiege hätten Sie mal sehen sollen«, warf der Justiz rat ein.

»Und ich bin geboren mit einem großen Ekel vor vielen Dingen, und alles, was mir zuwider ist, ist listiger und mächtiger als ich. Und auch ich bin aus Affrontenburg wie mein Stammesgenosse, der gute Heinrich Heine, und ich bin ein armes Mädchen und Weib gewesen, und ich habe mich ducken müssen vor jedem Affront, der mir angetan worden ist zu Affrontenburg.«

»Haben Sie das wirklich?« fragte Scholten, und dann kam ein Strahl von dem uralten scharfen Geierblick, wie er durch die Bücher von den Königen funkelt und in den Büchern der Makkabäer vor Antiochus dem Syrier.

»Ja, sie hätten es gern gehabt, wenn ich hätte auch gelächelt zu jeglichem Affront; aber ich habe dann und wann gelacht! Ich habe auch meine Zähne, und sie sind echt und sind echte jüdische Zähne. Ich habe gebissen, wenn ich gleich keine bissigen Gedichte und Lieder drucken lassen konnte wie der Pariser Poet, mein talentvoller Herr Vetter aus dem Morgenlande. Ich schillerte bunt und lieblich – purpurn, golden, grün und violett und zeigte ein rot Zünglein wie eine fremde Schlange in der Menagerie. Es war aber gefährlich, die Hand in den gläsernen Behälter zu senken! Das Gleichnis paßt nicht ganz. Der Mensch blieb draußen vor dem Zelt: wir waren ganz unter uns, und es waren auch recht noble Charaktere unter uns: der stolze Löwe, der brave, kluge Elefant, der biedere Bär, das würdige Kamel! Aber die Füchse, die Luchse, die Wölfe und dergleichen Nachbarschaft war schlimm, und vor allem anderen die Affen.«

»Es geht ordentlich ein Geruch von Ihrer Schilderung aus, meine Beste«, meinte der Justizrat mit innigster ungeheucheltster Teilnahme. »Na, auch ich war in Arkadien, bin sogar noch immer drin, und Sie brauchen nichts weiter zu sagen.«

»Gott sei Dank!« rief dann die Frau Salome. »Manchmal komme ich mir nicht vor wie eine gefangene Schlangenkönigin im Glaskasten, sondern wie ein arm keuchend Häslein, und dann ist es immer ein Trost, einem Kameraden zu begegnen, der gleichfalls hinkt und mit allen Hunden gehetzt wurde.«

»Nun, ich bin ein alter Rammler, und wie ich gebraten schmecken werde, weiß ich nicht. Horazische Oden wie mein Landsmann, der Professor Ramler aus dem Preußenlande, lasse ich auch nicht drucken; aber den Horaz lese ich und den François Marie Arouet dazu. Ich komme schon durch und weiß fertig zu werden mit Berlin und Hannover.«

»Und ich mit Affrontenburg!« rief die Frau Salome mit einem sozusagen glücklichen Lächeln. »Darf ich Ihnen noch eine Tasse Tee einschenken, Scholten?«

Die Sonne geht wohl glorreich, klar und würdevoll vernünftig auf; aber die Menschen, die auf die Berge klettern und dort in wüsten Hirtenhütten und unkomfortablen Hotels übernachten, um den Sonnenaufgang zu sehen, haben gewöhnlich ermüdete, überwachte Leiber, heiße Stirnen und fieberisch trockene Zungen und Hände und wenig Vergnügen von dem Pläsier. Der, welcher die Sonne wirklich aufgehen sieht, merkt eben nichts davon; es versteht sich ihm von selbst, daß die Sonne aufgeht und er an seine Arbeit. Diese Bemerkung geben wir zum besten, weil der zweite Sonnenaufgang nach der kühlen Mondscheinnacht, in der Eilike Querian von dem Dache ihres Vaters verschwand, einen außergewöhnlich heißen Morgen, eine seltsam schwüle Temperatur brachte. Und alles zu Berg gestiegene Touristenvolk im Harz behauptete, nie die Sonne so wundervoll und eigentümlich emporsteigen gesehen zu haben.

Es war etwas daran. Auch die Arbeiter auf dem Felde tauschten vom ersten Erscheinen der roten Kugel ihre Bemerkungen darüber aus und hielten von Zeit zu Zeit ein mit ihrer Beschäftigung, um sich um und nach oben zu schauen. Es war ein Dunst in der Luft, den der Mittag nicht zerstreute, und in der Ferne, über der Ebene im Norden, Nordwesten und Nordosten lag dieser Dunst zusammengeschichtet, doch nicht zu massigem Gewölk, sondern wie ein dunkler Schleier. Gegen elf Uhr morgens wurde die Hitze schier unerträglich; der dichteste Waldschatten gab keinen Schutz vor ihr; die Tiere in der Gefangenschaft wie in der Freiheit fingen an zu merken, daß nicht alles richtig sei in der Atmosphäre, und die Menschen fragten einander: »Nun, was soll denn das mal wieder werden?« Am verwundertsten aber sahen sich die Bergleute in der Oberwelt um, wenn sie aus ihrem unterirdischen Reich zu Tage auffuhren. Älteste, Knappen und Jungen schüttelten in gleicher Weise die Köpfe, sobald sie den Druck dieses glühenden Firmaments auf ihnen verspürten, und sie huben einer wie der andere an, von allerhand gefährlichen Vorkommnissen da unten in ihrem Reich, von den bösen Wettern und den Bergwassern, vom Einsturz und dergleichen zu sprechen, und erinnerten sich gegenseitig an einzelne Fälle, wie das damals war, als das und das geschah und die und die zugrunde gingen da unten in der Tiefe. –

Trotz geschlossener Jalousien und niedergelassener Vorhänge war die Hitze auch in der Villa Veitor arg zu spüren. Die bunten Farben auf Wänden und Decken linderten sie nicht, die bunten Glasscheiben machten sie nur noch bemerkbarer, und das Rauschen des Springbrunnens im Garten gewann in der niedergedrückten Phantasie eine merkwürdige Ähnlichkeit mit dem Singen und Brodeln eines überkochenden Kessels auf dem Kohlenfeuer. Die Frau Salome hatte den Kampf bereits aufgegeben; sie lag hingestreckt wie die büßende Magdalena auf dem Bilde Correggios, jedoch mit keinem Totenkopfe vor sich, sondern umringt von einem Kreise zerknitterter deutscher und ausländischer Zeitungen. Gar sehr verwunderte sie sich, als sie, das Journal des Débats zu den übrigen werfend, jetzt unter ihrem Altane eine fremde Stimme im Verkehr mit ihrer Dienerschaft vernahm.

»Besuch? Mein Gott, was ist das für ein Menschenkind, das zu dieser Stunde und bei dieser Temperatur mich sprechen will? Wer es auch sei und was ihn zu mir treiben mag: wenn er nicht schwitzt und wenn er mir drei vernünftige Worte im logischen Zusammenhang mitbringt, so ist der Äquator sein Vater, die Wüste seine Mutter und der Schirokko sein rechter Bruder – o ihr Götter, es ist ja Scholten! – Scholten, sind Sie es denn wirklich? Eben habe ich da noch gelesen, daß man wieder einmal die Stadt München mitten in den sibirischen Steppen als Spiegelbild in der Luft gesehen habe: ich bitte Sie, Scholten, reden Sie auch, geben Sie mir die Gewißheit, daß Sie kein Produkt der Fata Morgana sind!«

»Jawohl – leider bin ich's, und heute mal ich zu Esel!« ächzte der Justizrat, in den nächsten Sessel fallend und die Mütze in die fernste Ecke schleudernd. Halstuchlos, mit aufgerissener Weste, stierte er um sich, und wenn's auf Schwitzen ankam, so gehörte er nicht in die Verwandtschaft, welche die Baronin ihm soeben zurechtgemacht hatte. Er schwitzte gräßlich.

»Zu Maulesel – im Galopp zu Esel bin ich da; das heißt, was noch von mir übrig ist. Warten Sie nur – es ist eine Kunst, drei verständige Worte zusammenzubringen. Ah, den ganzen Kant und Aristoteles für ein Glas Selterswasser mit einer Nuance von Kognak! O Jesus, meine Beste, und Sie haben es sogar bei dieser Witterung fertiggebracht, sich mit der Orientalischen Frage zu beschäftigen?«

Das letztere war mit einem kläglichst matten Blick auf den Zeitungshaufen gesagt. Die Baronin fand zwischen den Aufträgen, welche sie in aller Hast dem Diener betreffs der Aufrichtung und Erfrischung des lieben und liebenswürdigen Besuchers gab, die Zeit, mit fröhlicher Miene zu erwidern:

»Sie kennen doch meine Stellung zu der Lehre von der Seelenwanderung, Scholten? Vor dritthalb tausend Jahren kam ich aus Saba zum König Salomo.«

»Jetzt lassen Sie mich gütigst mit alledem in Ruhe, Frau Salome! Auf der Wanderschaft befindet sich meine Seele augenblicklich auch, und ich wollte nur, sie hätte das Eisbärenfell schon gefunden, in das sie am liebsten aus ihrem jetzigen abgeschmackt unerträglichen Futteral sich verziehen möchte.