Uh – oh, am Nordpol ist es schön!«
»Aber das Dach der Witwe Bebenroth ist an einem solchen abnormen Sommermorgen wie der heutige, gegen einen Eselritt von dritthalb Stunden gehalten, auch nicht zu verachten?!«
Da sprang der Justizrat Scholten, vor Ärgernis pfeifend, in die Höhe und schrie:
»Glauben Sie etwa, meine Gute, ich sei pour vos beaux yeux jetzt hier? Da könnten Sie sich ebensogut einbilden, Frau, mein Esel habe mich gesattelt und gezäumt, um auf mir zur Visite nach der Villa Veitor zu reiten! Alle Teufel, Sie Närrchen – meine Gute, Liebe, Beste, der Teufel reitet mich freilich und nicht mich allein, sondern das Dorf, den Querian, die Eilike, kurz uns alle! Die Eilike ist seit gestern verschwunden und bis heute noch nicht wiedergefunden; Querian ist vollständig toll geworden, und ich – ich war drunten in der Stadt auf der Kreisdirektion, um als braver deutscher Staatsbürger daselbst bescheidentlich anzufragen, was unter den obwaltenden Umständen zu tun sei. Glauben Sie wirklich, ich habe ganz und gar vergeblich Jurisprudenz studiert? Glauben Sie, ich wisse ganz und gar nicht, woran der germanische Mensch in seinen Nöten sich zu halten habe- he?«
»Ich weiß nur, daß Ihr Studium und Ihr Germanentum Sie nicht hindern, einer der ausgezeichnetsten Grobsäcke zwischen der Weichsel und dem Wasgau zu sein; und ich glaube versichern zu können, daß die heutige etwas schwüle Witterung eine mildernde Wirkung auf Ihr Temperament und Ihre Ausdrucksweise nicht ausgeübt hat.«
»Und Ihr Eiskeller ist so vortrefflich, und Ihr Rheinwein dito – ah, noch ein Glas Soda! So? Ich grob, Liebste? Außer mir bin ich – weiter nichts! Verrückt bin ich – hundertmal toller als Querian, und das ist das Ganze, und dann kommen noch die Leute, die hier auf dem Diwan liegen und die kühlen Bergwasser in ihre Trägheit, um nicht zu sagen Faulheit, hineinsprudeln hören, und wollen von Grobheit reden! Verrückt, verschroben und toll bin ich: Querian und Schwanewede, aufeinander gepackt, reichen längst nicht mehr an den armen Scholten heran. Und nun falten Sie einmal Ihre glatte, kluge Stirn, Frau Salome; raten Sie, helfen Sie! Die Polizei allein tut's nicht, zumal wenn die Landreiter über Land geritten sind und heute abend erst nach Hause kommen werden.«
»Nehmen Sie noch ein wenig Eiswasser und versuchen Sie dann, mir ruhig zu erzählen, was vorgefallen ist. Vor allen Dingen aber, was ist mit dem Kinde, das ich vorgestern bei Ihnen kennenlernte?«
»Das Mädchen ist fort, und mein kuriöser Freund Querian behauptet, man habe es ihm gestohlen. Und ich soll es ihm gestohlen haben! Wutschnaubend hat er mir seine dahingehende Ansicht von der Sache in die Zähne gerückt.«
»Und dieses ist nicht der Fall? Sie haben keine Schritte getan –«
»Ich habe nichts getan. Nach Pilsum an Peter Schwanewede habe ich geschrieben um Rat; und in der Nacht, während ich schrieb und Sie nach Hause ritten, muß das Ding davongegangen sein. Da ist ein Halunke im Dorfe, ein armer geistesschwacher Kretin, halb blind und ganz taubstumm, August sein Name, und mir sonst als Charakter ziemlich verdächtig, der hat zu Protokoll gegeben, daß er das Mädchen im Mondschein von ihres Vaters Dach kletternd und im Walde laufend gesehen habe. Seine Mutter hat ihn geprügelt, und jedesmal, wenn ihn seine Mutter geprügelt hat, so hat sich der Hydrocephalus, der Wasserkopf und der Kropfmensch, in den Schutz der Eilike begeben, das heißt unter einem überhängenden Stein im Busch hinter ihrem Hause seine Zuflucht genommen. Er sagt nun aus, die Eilike sei an ihm vorbeigeschlüpft, und ich glaube nicht, daß der Tölpel dieses Mal lügt. Fort ist sie, und dann ist am Morgen Querian zu mir gekommen – seit langer Zeit zum erstenmal am hellen Tage hat er sich aus seiner Höhle erhoben – und hat seine Fräulein Tochter von mir zurückverlangt. Da hat es Auftritte gegeben in der Idylle bei der Witwe Bebenroth und auf der Dorfgasse, die mir den Aufenthalt auf Patmos für alle Zeiten verleidet haben. Der ganze liebenswerte Ort ist zu einem Tollhause geworden, und alles Bergmannsvolk hat für den primus inter pares, für meinen Freund Querian, Partei genommen. Wahrhaftig, da leben wir mitten im erleuchteten neunzehnten Jahrhundert und erleben es, daß einem die Tierheit, der Unverstand die Tor mit den Köpfen einrennen und Recht verlangen für ihren weisen Meister! Sie nennen ihn wirklich und wahrhaftig ihren weisen Meister, und sie haben vor meiner justizrätlichen, whistklub- und landtagswahlfähigen Nase auf den Tisch geschlagen und es sich verbeten, daß ich mich in – ihre Angelegenheiten mische! Sie haben behauptet, ich habe das Kind fortgeschickt; und Querian, selbstverständlich Methode in seinen Wahnsinn bringend, hat mich sehr verständig gefragt, ob ich in der Tat nicht die Absicht habe, mich in seinen Haushalt einzumischen und ihn in dem Seinigen zu stören. – Nun komme einer einem Narren wie er mit der Kreisdirektion und der Polizei! – Dem Vorsteher muß ich es lassen, er hat sich als ein vernünftiger Beamter gezeigt, und auf einen Teil der Bauern konnten wir gleichfalls zählen als verständige Männer. So haben wir den Wald abgesucht bis zum gestrigen Abend, die Eilike jedoch nicht gefunden. Und nun sitzt der Querian wieder und hat sich noch fester verbollwerkt in seiner Behausung, und die Bergleute haben die heillose Geschichte unter die Erde getragen und verarbeiten sie da weiter. Frau Salome, in dem Augenblick, wo Sie als klare israelitische Baronin und europäische Bankierswitwe und ich als hannoverscher Justizrat hier am hellen Tageslichte verhandeln, wird da unten in der Tiefe auch verhandelt, und wenn sie uns nicht eine Kompanie Musketiere schicken, ist kein Gedanke daran, daß wir den Querian in ein Asyl für Nervenkranke und die Eilike in unsere Hände und ein Erziehungsinstitut für junge Damen besserer Stände kriegen. Alles unterirdische Volk ist für Querian, die Waldarbeiter sind schwankend, und nur die Bauern, wie gesagt, sind zum Teil für uns, wollen aber natürlich erst wissen, was der Herr Kreisdirektor zu der verfluchten Geschichte sagt. Jawohl, die zuständige Behörde da unten in der Stadt wartet ab, daß ihre Landdragoner nach Hause kommen, und hier sitze ich. Mein Reittier steht in der Goldenen Forelle, und mein Brief an Peter von Pilsum befindet sich auf der Eisenbahn, auf der Reise nordwestwärts. Sollte man da nun nicht selber rappelig werden, zumal an einem solchen mörderlichen Tage, wo die Wendekreise des Krebses und des Steinbocks sich einem im Hirnkasten zu schneiden scheinen und einem der Gleicher grade üb er die Nase herunterläuft?!«
»Die Unglücklichen!« seufzte die Frau Salome, und sie meinte den Vater und das Kind in dem aufgeregten Dorfe hinter den Bergen. »Was für einen Rat wollen Sie von mir in dieser traurigen Sache? Nehmen Sie mich mit sich; ich werde sogleich den Befehl geben, anzuspannen, und wir können auf der Stelle abfahren. Ich will mit dem unseligen Menschen reden; ich will ihn sehen; – oh, ich weiß, ich kenne ja noch gar nichts von ihm! Sie haben mir von ihm gesprochen, aber von seinem Leben, seinen Anfängen und seinem Entwicklungsgange kaum etwas erzählt, Scholten.«
»Da ist eben wenig zu erzählen, gute Frau. Ich, Schwanewede und Querian sind sämtlich aus Quakenbrück, drei Wiedehopfe aus einem Neste – Schulgenossen, Jugendgenossen. Studienfreunde, wir alle drei zusammen –, aber drei geborstene Töpfe machen keinen ganzen und heilen. Jeder von uns ist seine eigenen Wege gegangen, und hier sind wir angekommen; jeder mit seinem Sprunge vom Henkel bis zum Boden, und nur ich von der alten Drahtbinderin Notwendigkeit für den ferneren notdürftigen Lebensküchengebrauch notdürftig konserviert. Ich nehme es nicht zu sehr übel, wenn Sie mich für den Vernünftigsten von den drei edeln Quakenbrückern halten wollen. Daß ich Jurist bin, wissen Sie; Schwanewede hat Theologie studiert und Querian eigentlich alles und die Bildhauerei noch obendrein. Da er der Begabteste von uns war, so fuhr die Welt natürlich am schlimmsten mit ihm. Um irgendeinen Halt zu haben, heiratete er und hat sein Weib bald genug in lauter Liebe und Zärtlichkeit zu Tode gequält.
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