»Unsere Eilike Querian!«

»Die Eilike!« wiederholte Scholten matt.

Die Dienerschaft der Villa Veitor hatte ihren Fang verwundert freigelassen und ihren Kreis um die Gefangene auf einige Schritte erweitert. Wie schlaftrunken auf den Füßen schwankend, stand das Mädchen und starrte aus geschwollenen, geröteten Augen blinzelnd umher.

»Ich habe keine Kirschen gestohlen!« rief es. »Ich stehle nicht. Mein Vater macht unsterbliche Götter, und ich stehle nicht! Sie lügen wie die Frau Bebenroth ich weiß nichts von des Herrn Paten Huhne. Die Köhler im Walde haben mir genug zu essen gegeben. Ich wollte nur die Dame besuchen – so wahr mir Gott helfe, ich wollte nur die schöne Dame noch einmal sehen!«

»Mich hast du aufgesucht, mein liebes Kind? Du bist um das Haus geschlichen – großer Gott, vielleicht seit vorgestern! – Weshalb bist du nicht hereingekommen zu mir?«

»Ich habe mich doch gefürchtet, und ich habe mich auch geschämt. Es war zu schön.«

Justizrat Scholten saß auf einem Rohrstuhl unter der Veranda mit Hm und Ha und einem fortwährenden Abnehmen und Wiederaufsetzen der Mütze. Jetzt ließ er die Arme hängen und stöhnte:

»War ich dir vielleicht auch zu schön, Eilike? Na, ich sage nichts mehr, und ich tue nichts mehr. Hier sitze ich wie ein obergerichtsadvokatliches Fräulein von Klettenberg und warte ruhig ab, was noch weiter passiert.«

»Wir verschieben unsere Fahrt in den Wald noch um eine Stunde, nicht wahr, Scholten?« fragte die Frau Salome, und schon hatte sie die Eilike unter dem Arme gefaßt und führte sie die Treppe hinauf in ihren Salon zurück.

Der Justizrat folgte langsam; aber im Saal angekommen, warf er seine Mütze auf den Boden und rief:

»Ich hänge alles an den Nagel und mich dazu! Was hilft mir nun meine mit den nützlichsten Studien hingebrachte Jugend? Was hilft alle meine Jurisprudenz und andere Prudenz, all mein Wissen und meine Weissagungen? Ich habe nur den einen Wunsch, nämlich daß ein anderer kommt, um mir mitzuteilen, was dieses Menschenkind gerade hierher getrieben hat.«

»Ich ahne es«, murmelte die Frau Salome.

»Jawohl! Natürlich! Versteht sich! Was mich anbetrifft, so hat es bei mir nie mit dem ›Ahnen‹ und ›Schwanen‹ so recht vonstatten gehen wollen, und wenn mir was geschwant hat, so ist sicher eine Dummheit herausgekommen. Nun sprich, Eilike, du Kindskopf, du Heckenspatz, du echte Tochter deines Vaters, was wolltest du hier? Weshalb bist du uns durchgegangen und hast den alten Querkopf ganz rabiat und desperat gemacht und das ganze Dorf auf den Kopf gestellt? Ist es dir gar nicht eingefallen, daß man dich suchen, daß man sich Sorge um dich machen werde?«

Die schöne Baronin hatte währenddessen das arme, zitternde, verschüchterte Mädchen auf den Diwan niedergedrückt; sie hatte ihr auch ein Glas kühles Getränk bereitet und es ihr fast mit Gewalt eingezwungen. Sie saß neben ihr und sprach ihr mit mütterlichem, zärtlichem Tone zu:

»Nicht wahr, die Sache ist ganz einfach, mein Herz; du bist zu mir gekommen, weil du Gefallen an mir gefunden hast?«

»Jaja – ja!« flüsterte Eilike Querian.

»Du hast mich vorgestern, als ich bei euch – bei dem Herrn Paten war, darauf angesehen, ob ich dir wohl helfen würde, wenn du zu mir kämest. Und weil du gern möchtest heraus aus deinem Leben in ein anderes, mein armes Herz, haben sie dich schlafend gefunden in meinem Garten! Weil du so groß gewachsen sein möchtest wie ich und solche Kleider tragen und reinlich sein, bist du gekommen! Du hast deinem Vater nicht aus Bosheit, aus bösem Herzen weglaufen wollen?!«

»Nein, o nein!« schluchzte die Eilike. »Es ist alles stärker gewesen als ich. Ich habe müssen! – Ich weiß aber nicht zu sagen, was ich getan habe, was ich will, und das weiße Bildnis in meiner Kammer ist nicht meine Mutter, sondern eine fremde, heidnische Frau. Meine Mutter ist tot.«

»Und das Universum leidet am Sonnenstich! Ich – du – wir alle!« schrie der Justizrat.

»Seien Sie mir jetzt still, Scholten«, sprach aber die Frau Salome mit souveräner Herrschaft über alle Zustände der Minute. »Was wissen Sie? Was verstehen Sie? Die Eilike soll jetzt ein ganzes Huhn essen; in meinem Küchenschranke wird sich wohl noch eins finden; und wir wollen mit ihr frühstücken, denn in Ihrem Dorf ist man doch nicht sicher, ob das Wirtshaus nicht wieder ratzenkahl gezehrt ist, wie sich Ihre gemütliche Witwe ausdrückt, lieber Scholten. Nachher wollen wir dann alle drei in den Wald zum Vater Querian fahren und alles in Ordnung bringen. Wir bringen doch noch alles in Ordnung!«

Zwischen Lachen und Weinen hatte das die Frau Salome gerufen; doch der alte Scholten sagte seufzend:

»Wahrscheinlich wird eben alles so, wie es jetzt ist, in der schönsten Ordnung sein; und wir sind insgesamt nur zu dumm, um die Harmonie herauszufühlen und einzusehen. Appetit habe ich nicht, und kann das auch keiner von meinem Magen und mir verlangen. Mit der Aussicht auf einen Besuch bei Querian zu verdauen? Das könnte einem Leber, Milz und Pankreas für alle Ewigkeit in Unordnung bringen, und dann möchte ich freilich wohl den Philosophen kennenlernen, welcher dann auch das in der schönsten Ordnung fände.«

Sprach's und frühstückte mit und war der einzige von den dreien, der wirklich aß, und zwar mit Appetit. Gerade um die zwölfte Stunde des Mittags fuhr man nun wirklich von der Villa Veitor ab und gelangte bald auf die große Straße, den weißen Streif, welcher der Eilike so deutlich durch die kühle Mondnacht geschimmert hatte.

Jetzt lag die allerheißeste Sonne auf dieser Straße; doch die Ebene sah noch dunkler im still schwülen Scheine herüber auf das Gebirge. Die Pferde schnoben und stöhnten auch, und die Höhen brachten heute keine kühlere Luft; im Gegenteil. Dagegen aber erblickte das Auge, als man auf das schon geschilderte Bergplateau gelangte, über die nächsten Tannenwälder und Höhenzüge weg gegen Westen hin eine schwere, weiße Wolkenwand, die stillzuliegen schien, aber doch rückte. Der Brocken war nicht mehr zu sehen, das Gewölk hatte sich bereits über ihn weg und vor ihm her geschoben, aber ein Bergzug lag noch tiefblau, ja schwarz, einer letzten Mauer gleich, gegen den unheimlichen, weißen, stillen Feind.

Stille! Nur einmal kam ein leises, wie spielendes Lüftchen und trieb zehn Schritte vor den Pferden ein Wirbelsäulchen von Staub und Strohhalmen und Blättern auf. Dann legte es sich wieder, und alles war ruhig wie zuvor; aber der Kutscher, seine Zügel fester in der Hand zusammennehmend, wendete sich zu den Herrschaften im Wagen und sagte, mit der Peitsche nordwärts und westwärts deutend:

»Das sieht schlimm aus; und es gibt heute sicherlich noch was.« »Sehen Sie zu, daß Sie uns wenigstens trocken in das Dorf bringen, Ludwig.«

»Das wird sich wohl noch machen lassen, Herr Justizrat. Das platte Land da geht uns überhaupt nichts an; wenn nur die Berge da vor uns standhalten. Auf dem Brocken haben sie heute eine schlechte Aussicht.«

Die Straße lief jetzt ohne weitere bedeutende Steigung weiter. Die Pferde flogen, der Wagen rollte leicht auf dem guten Wege, und Eilike Querian ließ wieder den Kopf auf die Brust sinken und schlummerte von neuem ein, betäubt durch die Hitze der Stunde und die Aufregungen der letzten Tage.

Die Baronin saß still dem Kinde gegenüber; nur einmal bemerkte sie:

»Ich habe das in Sizilien vor einigen Jahren, kurz vor Ausbruch eines sehr heftigen Orkans, so gesehen und gefühlt. Wie dunkel es über der Ebene wird und doch wie klar die Türme der Städte und Dörfer und das übrige hervortreten!«

»Und es ist möglich, daß wir hierher keinen Tropfen Regen bekommen. Daß wir von hier aus wie aus der Arche auf die Sintflut sehen.