Aber er merkte es kaum, denn allstündlich ging sein Geist sorgend in die Zukunft.
Seine Stirn trug zu allen Stunden die gleichen Falten, sein Auge schaute mit dem gleichen gedankenschweren, grüblerischen Ausdruck vor sich nieder, gleichsam ins Innere hinein, und oft vergingen Tage, ohne daß er bei Tisch und bei der Arbeit ein einzig Wort gesprochen hätte.
Er trug die Überzeugung, daß im Grunde sein Schaffen ein hoffnungsloses war. Auf des Vaters Dank hatte er niemals rechnen können, und er lernte leicht, ihn verschmerzen, aber was er schwerer lernte, war, sich geduldig fügen, wenn des Vaters Laune in einer Stunde zerstörte, was er mühsam durch Wochen hin aufgebaut hatte.
Wenn der Vater von seinen Reisen heimkam, so geschah es nicht selten, daß er ihn vor den Ohren der Knechte einen Pinsel, einen Dummkopf schalt und sich bitter beklagte, die Wirtschaft in so unfähigen Händen zurücklassen zu müssen, wenn die Pflicht – niemand wußte, welche Pflicht dies war – ihn in die Ferne rief.
Paul schwieg alsdann, denn tief in seinem Herzen ruhte das Gebot: »Du sollst Vater und Mutter ehren. – Den Vater um der Mutter willen,« so hatte er es umgemodelt – aber sein Auge glitt mit einem düster spähenden Blicke von einem der Knechte zum andern, und wen er lächeln oder in heimlicher Schadenfreude des Nachbarn Ellbogen streifen sah, den entließ er am folgenden Morgen.
Einen unter den Knechten gab es, der fast die ganze Zeit über auf dem Heidehof gearbeitet hatte. Er hieß Michel Raudszus und war litauischer Herkunft. Er bewohnte auf der Heide, unweit von Helenental, eine armselige, verfallene Kate, deren Wände mit Torf belegt waren, damit sie der Sturm nicht umfegte. Er hatte ein verwahrlostes Weib, das schon zweimal im Gefängnis gesessen hatte und die Kinder zum Betteln anhielt.
Er war ein schweigsamer, finsterer Gesell, der seine Arbeit musterhaft verrichtete und ohne ein Wort des Murrens von dannen ging, wenn man ihn nicht mehr brauchte, aber pünktlich zur Stelle war, wenn es von neuem Arbeit gab.
Paul hatte ihn anfangs nicht leiden mögen, denn sein wortkarges, einsames Wesen und seine scheuen, düsteren Mienen hatten auf ihn einen unheimlichen Eindruck gemacht, aber dann war's ihm plötzlich eingefallen, daß er selber sich nicht viel anders betrüge, und seit dieser Stunde hatte er ihn in sein Herz geschlossen.
Der Vater seinerseits schien einen gewissen Respekt vor ihm zu haben, denn obwohl er, wenn er betrunken war, die Knechte durchzuprügeln pflegte, hatte er ihn noch niemals angerührt. – Es war, als ob der Blick, den der Mensch unter seinen buschigen Brauen hervor ihm zuwarf, ihn im Zaume hielte.
Dieser Knecht war Pauls treuester Gehilfe. Ihm konnte er selbst den Marktverkauf des Getreides anvertrauen, und stets wußte er die höchsten Preise zu erhandeln. – – –
Auf dem stillen Heidehof hatte sich in diesen fünf Jahren langsam und unmerklich eine große Veränderung vollzogen. Mehr und mehr verloren sich die Spuren der Armut, seltener und seltener kehrte die Not bei Tische ein. – Im Garten zeigten sich zierliche Blumenrabatten, in langen Reihen standen die Schoten-und die Spargelstauden, und der brüchige Bretterzaun war längst durch einen neuen ersetzt worden. – Die Herde wuchs alljährlich um zwei oder drei wertvolle Kühe, und der Milchwagen, der allmorgendlich nach der Stadt fuhr, brachte am Ersten manchen schönen Groschen heim.
Daß trotzdem von einem beginnenden Wohlstand keine Rede sein konnte, daran war nur der Vater schuld, der den größten Teil der Einkünfte verspekulierte, wenn er sie nicht durch die Gurgel jagte.
Hinter seinem Rücken hatte Paul es möglich gemacht, daß wenigstens für die Geschwister allmonatlich ein paar Taler erübrigt wurden.
Die Brüder brauchten mehr Geld denn je. Max hatte das Staatsexamen gemacht und absolvierte nun unentgeltlich sein Probejahr bei einem Gymnasium; und Gottfried, der Kontorist, war alljährlich etliche Monate außer Stellung. Die beiden schrieben Bittbriefe in allen möglichen Tonarten, von der jovialen Forderung: »Pump mir mal sofort dreißig Taler,« bis zum herzzerreißenden Flehen: »Wenn Du nicht willst, daß ich zugrunde gehen soll, so habe Erbarmen« und so weiter.
Paul verbrachte manche schlaflose Nacht über dem Sinnen, wie ihnen zu helfen, und nicht selten geschah es, daß er sich das Geld an seinem eigenen Leibe absparte.
Einmal hatte ihm Gottfried geschrieben, daß er gänzlich abgeledert sei und notwendig einen Sommeranzug brauche. Paul wollte sich gerade einen Sonntagsrock machen lassen, denn sein alter war ihm ausgewachsen; seufzend packte er das Geld, das er dafür bestimmt hatte, in ein Kuvert und schickte es dem Bruder, ließ aber in dem Begleitbriefe etwas davon einfließen, daß es mit seiner eigenen Garderobe nicht minder übel bestellt sei. Der Bruder zeigte sich großmütig, er schickte ihm vierzehn Tage später ein Paket mit Kleidern und einen Brief, in dem es hieß: »Ich schicke Dir anbei einen abgelegten Anzug von mir. Du in Deiner anspruchslosen Stellung wirst ihn wohl noch verwerten können.«
Auch den Zwillingen hatte Paul eine glänzendere Zukunft ermöglicht, als die gedrückten Verhältnisse des Hauses es erwarten ließen. Er hatte dahin gewirkt, daß die Pfarrerin, eine ehemalige Gouvernante, sie in die Privatschule aufnahm, die sie für die Töchter wohlhabender Besitzersfamilien aus der Umgegend errichtet hatte.
Das Schulgeld war nicht das schlimmste dabei – auch die Bücher und Hefte ließen sich wohl auftreiben – aber schwer, sehr schwer war es, die nötige Garderobe instand zu halten, denn sein Stolz litt es nicht, daß die Schwestern hinter ihren Freundinnen zurückblieben und etwa als Bettlerkinder von ihnen betrachtet würden. Er selbst hatte das Gefühl, über die Achsel angesehen zu werden, allzu sehr an sich kennen gelernt, um es den Schwestern zu gönnen.
An der Mutter fand er selbst für diese weiblich gearteten Sorgen keinen Rückhalt mehr. Sie war nun durch die steten Scheltreden ihres Mannes so sehr verängstigt, daß sie nicht mehr den Mut fand, einen Fetzen Band auf eigene Verantwortung einzukaufen.
»Was du tust, mein Sohn, wird gut sein,« sagte sie; und Paul fuhr zur Stadt und ließ sich von dem Manufakturisten und der Schneiderin betrügen.
Die Zwillinge blühten empor, sorglos und übermütig, ohne eine Ahnung davon, welch ein Trauerspiel sich in ihrer nächsten Nähe abspielte.
In ihrem zehnten Jahre prügelten sie sich mit den Jungen des Dorfes herum, im zwölften gingen sie mit ihnen auf den Birnendiebstahl, und im fünfzehnten ließen sie sich von ihnen Veilchensträuße schenken ...
Sie galten nun weit und breit als die schönsten Mädchen der Gegend. Paul wußte das wohl und war nicht wenig stolz darauf, aber was er nicht wußte, war, daß sie sich hinter dem Gartenzaune Stelldichein gaben und daß die Hälfte ihrer Konfirmationsbrüder sich rühmen durfte, ihre süßen, roten Lippen geküßt zu haben. –
10
Es war im Monat Juni an einem sonnigen Sonntagnachmittag.
Aus dem Walde herüber erscholl leise Trompetenmusik. Dort wurde heut ein großes Fest gefeiert. Eine städtische Musikkapelle hatte sich anwerben lassen, ein Konzert zu geben. Von weit und breit waren die Landbewohner herbeigeströmt, selbst die Rittergutsbesitzer hatten nicht verschmäht, ihre Teilnahme zuzusagen, denn dergleichen ereignete sich nicht häufig in dem stillen Hinterwald.
Von Mittag an waren lange Wagenreihen an dem Heidehof vorübergezogen, und der alte Meyhöfer, der nicht gern zu Hause saß, wenn irgendwo was los war, hatte plötzlich einen Anfall von Güte bekommen und den Weibern zugerufen, sich schleunigst bereit zu machen, er wolle sich opfern und sie zum Feste führen.
Die Zwillinge, die schon lange mit begierig glänzenden Augen zum Fenster hinausgestarrt hatten, brachen in lauten Jubel aus, Frau Elsbeth lächelte still zu ihnen hinüber und wandte sich dann zu Paul, der in einer Ecke saß und ruhig an seinen Blumenstöcken weiterschnitzelte, als ob ihn das alles nichts anginge.
»Willst du nicht mit?« fragte sie.
»Paul kann kutschieren,« rief Meyhöfer nachlässig.
Er dankte und meinte, sein Rock sei zu schäbig, auch wolle er die Tagelöhner kontrollieren, die sich mit Sonnenuntergang einzufinden hatten. Morgen sollte die Heuernte beginnen.
Die Zwillinge sahen ihn an, steckten die Köpfe zusammen und kicherten dann, als er zur Tür hinausschritt, hängten sie sich an ihn, und Käthe zischelte: »Du, wir wissen was!«
»Na, was wißt ihr denn?«
»Was Schönes!« meinte Grete geheimnisvoll.
»'raus damit!«
»Elsbeth Douglas ist wieder zu Hause.«
Und in ein helles Gelächter ausbrechend, jagten sie von dannen.
Paul empfand zuerst einen großen Zorn, daß sie ihn zu verspotten wagten, dann seufzte und lächelte er und wunderte sich, daß sein Herz plötzlich so laut zu pochen begann.
Eine halbe Stunde später fuhren die Seinen ab.
»Komm bald nach!« rief ihm die Mutter vom Wagen zu, und Käthe raunte ihn beim Aufsteigen ins Ohr: »Ich glaub', sie werden auch da sein.«
Nun stand er allein auf dem verödeten Hof ... Die Mägde waren zum Melken auf die Weide gegangen, – keine lebendige Seele weit und breit.
Die Enten in ihrem Tümpel hatten die Köpfe unter die Flügel gesteckt, der Kettenhund schnappte schläfrig nach Fliegen.
Paul setzte sich auf den Gartenzaun und starrte nach dem Walde hinüber, an dessen Rande der Schein von hellen Kleidern hin und her flirrte, während hie und da ein helles Leuchten aufblitzte, wenn die Sonnenstrahlen sich in dem Geschirr der harrenden Fuhrwerke widerspiegelten.
Der Abend kam. Noch war er unschlüssig, ob er es wagen dürfte, den Seinen nachzufolgen.
Tausend Gründe fielen ihm ein, die sein Zuhausebleiben dringend notwendig machten, und als es ihm vollständig klargeworden war, daß er ins Haus gehöre und nirgends anders hin, zog er sich seinen Sonntagsrock an und ging zum Feste.
Es fing an zu dunkeln, als er über die duftende Heide dahinschritt. Das Herz schnürte sich ihm zu in tiefgeheimer Angst. – Er wagte nicht nach den Gründen zu forschen, doch als er an dem Wacholderbusche vorbeischritt, unter dem er einst Elsbeth sein schönstes Lied gepfiffen, da zuckte ein Schmerz durch seine Brust, als hätte ein Stich ihn getroffen.
Er hielt an und überlegte, ob er nicht lieber umkehren sollte.
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