– – Ja, ich bin viel, viel älter geworden,« fuhr sie fort. »Literaturstunden hab' ich genommen – da hab' ich viel Schönes gelernt.«

Ein quälender Neid erwachte in ihm.

»Heb mal das Buch auf!« – Er tat's. – »Kennst du das?«

Er las auf dem roten Deckel in goldener Pressung die Worte: »Heines Buch der Lieder« und schüttelte traurig den Kopf.

»Ach, dann kennst du nichts. – Was da alles drinsteht! Du, das Buch muß ich dir leihen! Das lies – da lernt man was draus! Und wenn man eine Weile drin gelesen hat – dann kommt einem meistens das Weinen an.«

»Ist es denn so traurig?« fragte er und besah den roten Deckel mit beklommener Neugier.

»Ja, sehr traurig, so schön und so traurig wie – wie – bloß von Liebe ist die Rede, von weiter gar nichts, und man fühlt, wie die Sehnsucht einen übermannt, wie man fliegen möchte nach dem Ganges, wo die Lotosblumen blühen und wo –«

Sie stockte, dann lachte sie hell auf und meinte: »Ach, das ist zu dumm – nicht?«

»Was?«

»Was ich da schwatze.«

»Nein – ich möcht' dich mein Lebtag so reden hören.«

»Ja – möchtest du? – Ach, du – hier ist es mollig! Ich komm' mir so geborgen vor, wenn du dabei bist.« – Und sie streckte sich in dem Netzwerk aus, als wollte sie mit dem Kopf nach seiner Schulter hin.

Ein seltsames Gefühl von Glück und Frieden überkam ihn, wie er es lange nicht gekannt hatte.

»Warum schaust du fort?« fragte sie.

»Ich schaue nicht fort.«

»Doch ... du mußt mich anschauen ... Das hab' ich gern ... du hast so ernste, treue Augen – du, jetzt weiß ich auch, womit ich die Lieder da vergleichen soll!«

»Nun, womit?«

»Mit deinem Pfeifen. Das ist auch so – so – – na, du weißt schon ... Pfeifst du denn auch noch manchmal?«

»Selten!«

»Und die Flöte hast du wohl auch nicht spielen gelernt?«

»Nein.«

»O pfui! – Wenn du mich liebhast, dann tust du's ... Ich werde dir auch das nächste Mal eine schöne Flöte schenken!«

»Ich habe nichts, dir wieder zu schenken!«

»Doch – du schenkst mir all' die Lieder, die du spielst. Und wenn dir recht wehe ums Herz ist ... na, lies nur in dem Buche – da steht alles.«

Paul besah es von allen Seiten. »Was muß das für ein seltsames Buch sein?« dachte er.

»Und nun erzähl mir von dir!« sagte sie. »Was tust du? Was treibst du? Was macht deine liebe Mama?«

Paul sah sie dankbar an. Er fühlte, daß er heute würde reden können, ganz wie ihm ums Herz war – da fuhr's ihm plötzlich durch den Sinn, daß die Frühstückspause längst vorüber und daß der Knecht mit den Pferden auf ihn wartete. Bis Mittag mußte er fertig sein, denn nach dem Essen sollte das Fuhrwerk mit einer Fuhre Torf, die er heimlich hatte stechen lassen, in die Stadt.

»Ich muß an die Arbeit,« stammelte er.

»Ach, wie schade! Und wann bist du fertig?«

»Um Mittag.«

»So lange kann ich nicht warten, sonst ängstigt sich Mama. Aber in den nächsten Tagen komm doch wieder einmal ausschauen – vielleicht findest du mich. Jetzt will ich noch eine Stunde hier liegen und dir zugucken. Es sieht prächtig aus, wenn du mit deinem schneeweißen Tuche auf und nieder schreitest und die Körner um dich her sprühen.«

Er reichte ihr stumm die Hand und ging.

»Das Buch werd' ich hier liegen lassen,« rief sie ihm nach, »hol's dir, wenn du fertig bist ...«

Der Knecht lächelte verschmitzt, als er ihn kommen sah, und Paul wagte kaum die Augen zu ihm aufzuschlagen.

Jedesmal, wenn er in seiner Arbeit an der Stelle vorüberging, an der sie drüben im Walde ruhte, richtete sie sich halb auf und winkte ihm mit dem Taschentuche. Gegen zwölf Uhr wickelte sie ihre Hängematte zusammen, trat an den Waldesrand und rief durch die hohle Hand ihr Lebewohl ...

Er nahm zum Dank die Mütze ab, der Knecht aber schaute nach der anderen Seite und pfiff sich eins, als wollte er nichts bemerkt haben ...

Während der heutigen Mittagsmahlzeit wandte die Mutter keinen Blick von ihrem Sohne, und als sie mit ihm allein war, trat sie auf ihn zu, nahm seinen Kopf in ihre beiden Hände und sagte: »Was ist dir passiert, mein Junge?«

»Weshalb?« fragte er verwirrt.

»Dein Auge leuchtet so verfänglich.«

Er lachte laut auf und lief von dannen; als sie ihn aber beim Abendbrot noch immer anschaute – fragend und traurig zugleich –, da tat es ihm weh, daß er ihr kein Vertrauen geschenkt hatte, er ging ihr nach und gestand ihr, was ihm widerfahren war.

Da flog es wie Sonnenschein über ihr vergrämtes Gesicht, und als er mit glühenden Backen verschämt von dannen schlich, schaute sie ihm feuchten Auges nach und faltete die Hände, wie um zu beten.

Er saß bis gegen Mitternacht in seiner Kammer, den Kopf in die Hände gestützt. Das geheimnisvolle Buch lag auf seinen Knien, aber darin lesen konnte er nicht, denn der Vater hatte ihm verboten, abends Licht zu brennen. Er mußte warten bis zum Sonntag.

Er dachte darüber nach, wie anders sie geworden war. – Hätte sie nur nicht so oft gelacht. Ihr Frohsinn entfremdete sie ihm, und das volle, blühende Leben, von dem sie sich tragen ließ, rückte sie weit, weit fort in jenes ferne Land, wo die Glücklichen wohnen. Und schien sie an Lieb' und Güte auch die alte, sie mußte ihn ja verachten lernen, er war ja bloß ein Bauernjunge und dumm und linkisch und trübselig dazu.

In seinem Kopfe wogte ein wirres Durcheinander von Glück und Scham und Selbstvorwürfen, denn er fand, daß er sich weit würdiger und weit vornehmer hätte benehmen können. – Hierin mischte sich eine rätselhafte Angst, die ihm fast die Kehle zuschnürte – wiewohl er vergebens in seiner Seele nachforschte, wem sie wohl gelten mochte.

Am nächsten Vormittag sah er vom Hofe aus, auf dem er Pfähle eingrub, etwas Weißes am Waldrande sich hin und her bewegen. – Er biß die Zähne zusammen in Weh und Ingrimm, aber er brachte es nicht übers Herz, seine Arbeit zu verlassen.

Noch zwei Tage lang fand das Weiße sich ein – dann blieb es verschwunden.

Am Sonntagvormittag holte er sich das Liederbuch aus seinem Kasten und wanderte damit nach dem Walde – zur Mahlzeit blieb er aus –, und am Abend fanden ihn die Zwillinge, die auf der Heide Haschen spielten, pfeifend unter einem Wacholderbusch liegen, während ihm die Tränen über die Wagen liefen.

So übersetzte er sich das »Buch der Lieder« in seine Sprache.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Kurze Zeit darauf hörte er, daß Frau Douglas von den Ärzten ein dauernder Aufenthalt im Süden angeordnet sei und daß Elsbeth sie begleiten werde.

»Es ist ganz gut so,« sagte er sich, »dann wird sie mir nicht mehr so viel im Kopfe herumspuken.« Lange war er unschlüssig, ob er ihr das entliehene Buch wiederschicken sollte oder nicht; er hätte es gern behalten, aber sein Gewissen ließ das nicht zu. Er wartete auf eine günstige Gelegenheit – bis er erfuhr, daß sie abgereist sei. Da gab er sich zufrieden.

 

9

 

Fünf Jahre vergingen – fünf Jahre voll Sorgen und Mühen. Paul ließ sich das Leben gar sauer werden, er schaffte von morgens früh bis in die Nacht hinein, seine fleißige Hand lag auf jeglichem Werke, und was er anfaßte, gedieh.