›Aber wie kommt der hierher?‹ frag' ich mich, und da ich mir durchaus Gewißheit verschaffen will, nehm' ich meinen Mantel um und schleich' mich hinunter – so – da bin ich nun – und jetzt komm – wir wollen zum Walde gehen – dort kann uns keiner sehen.«
Sie legte ihren Arm in den seinen. Schweigend schritten sie über die mondhellen Wiesen.
Und dann plötzlich schlug sie beide Hände vors Gesicht und fing bitterlich zu weinen an.
»Elsbeth, was ist dir?« rief er erschrocken.
Sie wankte, ihre weiche Gestalt erbebte in lautlosem Schluchzen.
»Elsbeth, kann ich dir nicht helfen?« bat er.
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Laß nur,« preßte sie hervor, »es ist gleich vorüber.«
Sie versuchte weiterzuschreiten, aber die Kräfte versagten ihr. Aufseufzend ließ sie sich an einem Grabenrain ins feuchte Gras niedersinken.
Er blieb vor ihr stehen und schaute auf sie nieder. »Ausweinen lassen,« das war die Regel, die er schon oft im Leben erprobt hatte. – All sein Bangen war von ihm gewichen. Hier gab es etwas zu trösten, und im Trösten war er Meister.
Als sie sich ein wenig beruhigt hatte, setzte er sich neben sie und sagte leise: »Willst du nicht dein Herz ausschütten, Elsbeth?«
»Ja, das will ich,« rief sie, »hab' ich doch drauf gewartet volle drei Jahre lang. So lang' hab' ich's mit mir herumgetragen, Paul, und bin fast erstickt unter der Last und hab' keinen Christenmenschen gefunden, dem ich's hätt' anvertrauen können. Unten in Italien, auf dem schönen Capri, wo alles lacht und jubelt, da bin ich oftmals mitten in der Nacht ans Meer 'runtergeschlichen und hab' aufgeschrien in meiner Qual, und bin morgens wieder zurückgekehrt und hab' gelacht, mehr noch wie die andern, denn die Mutter – o Mutter – Mutter!« rief sie, aufs neue laut aufschluchzend.
»Sei ruhig, du hast ja jetzt mich, dem du's sagen kannst,« flüsterte er ihr zu.
»Ja, dich hab' ich – dich hab' ich,« preßte sie hervor und lehnte das Antlitz gegen seine Schulter. »Sieh, das hab' ich immer gewußt; aber was half's mir? – Du warst ja weit weg – und oftmals war ich auch nahe daran, dir zu schreiben, aber ich fürchtete, du seiest mir fremd geworden und würdest es übel auslegen ... Und seitdem wir wieder zurück sind, hab' ich nur einen Gedanken: ›Ihm mußt du dich anvertrauen, er ist der einzige, der den Kummer kennt – er wird dich verstehn.‹«
»Sag, was ist's, Elsbeth?« bat er.
»Sie muß sterben!« stieß sie laut aufschreiend hervor.
»Deine Mutter?«
»Ja!«
»Wer hat dir das gesagt?«
»Der Professor in Wien, von dem sie sich untersuchen ließ. Ihr hat er ein vergnügtes Gesicht gemacht und gesagt: ›Wenn Sie sich schonen, können Sie hundert Jahre alt werden‹, aber hinterher hat er mich holen lassen und hat mich gefragt: ›Sind Sie stark, mein Fräulein, können Sie die Wahrheit vertragen?‹ – ›Ich bitte Sie darum‹, hab' ich geantwortet. ›Ihnen muß ich's anvertrauen‹, sagte er da, ›denn Sie sind die einzige, die hier über sie wacht.‹ Und darauf hat er mir mitgeteilt, daß sie jeden Tag wegsterben könne –, wenn nicht – und dann hat er mir eine Menge Maßregeln an die Hand gegeben, die sie alle beobachten muß, mit Essen und Trinken und Klima und Gemütsaufregung und mehr noch. Sieh, seit diesem Tage zitterte ich um sie von früh bis spät und sorge und wache und finde keine Ruh. Manchmal kommt's dann über mich, daß ich mir sage: ›Du bist jung und willst leben‹, und dann versuch' ich zu jubeln und zu singen, aber der Ton erstickt mir in der Kehle, und ich sinke wieder zusammen. Freilich, der Mutter muß ich ein fröhlich Gesicht zeigen und dem Vater auch.«
»Aber warum hast du dich ihm nicht anvertraut?« fiel er ihr ins Wort.
»Soll auch sein Leben vergiftet werden?« erwiderte sie. »Nein, lieber trag' ich's für mich allein, als daß ich auch ihn leiden sehen sollte. Er ist fröhlichen Gemütes und hängt an ihr mit seiner ganzen Seele – sonst ist er wohl manchmal heftig und aufbrausend, nur ihr hat er noch kein böses Wort gesagt – laß ihn hoffen, solange er's vermag – ich verrat's ihm nicht.«
Sie stützte den Kopf in beide Hände und starrte vor sich hin.
Ihm fiel das Märchen seiner Mutter ein. »Frau Sorge, Frau Sorge,« murmelte er vor sich hin.
»Was sagst du da?« fragte sie und sah ihn mit großen, trostverlangenden Augen an.
»Ach nichts,« erwiderte er mit einem traurigen Lächeln, »ich wollte, ich könnte dir helfen.«
»Wer könnte das wohl?«
»Und doch kann ich's vielleicht,« sagte er, »es hat dir nur einer gefehlt, mit dem du dich aussprichst. Du bist gar nicht so übel dran, wie du denkst – zwar dich hat die Frau Sorge auch gesegnet ...«
»Was heißt das?« fragte sie.
Und darauf erzählte er ihr den Anfang jenes Märchens, so gut er's im Gedächtnis behalten hatte.
»Und wie erlöst man sich von diesem Segen?« fragte sie dann.
»Ich weiß es nicht,« erwiderte er, »die Mutter hat mir das Ende des Märchens niemals erzählen wollen. Ich glaube auch nicht, daß es eine Erlösung gibt. Solche Menschen wie wir, die müssen gutwillig auf das Glück verzichten, und wenn es ihnen noch so nahe ist, sie sehen es nicht – es kommt ihnen immer was Trübes dazwischen. Das einzige, was sie können, ist, über das Glück der andern zu wachen und zu sorgen, daß es ihnen so gut wie möglich gehe.«
»Ich möchte aber auch ein bißchen glücklich sein,« sagte sie, die Augen treuherzig zu ihm aufschlagend.
»Ich wünschte, ich wäre so glücklich wie du,« erwiderte er.
»Hätt' ich nur nicht immer Angst,« klagte sie.
»Die Angst – mit der mußt du dich schon befreunden – die hab' ich mein Lebtag gehabt, und wenn ich nicht wußte, warum, so hab' ich mir rasch 'nen Grund zurechtgemacht. Es ist auch gar nicht so schlimm damit – wenn man die Angst nicht hätt', man würd' ja nicht wissen, warum man lebt. – Aber denk' nur einmal nach, wie zufrieden du sein kannst: Du siehst lauter fröhliche Gesichter um dich, die Mutter fühlt sich glücklich, trotz allem Leiden – das tut sie doch?«
»Ja, Gott sei Dank,« sagte sie, »sie ahnt gar nicht, wie schlimm es mit ihr steht.«
»Na, siehst du! – Und der Vater ahnt es ebensowenig; keine Sorge drückt sie, sie lieben sich und lieben dich auch, kein böses Wort fällt zwischen euch – und wenn die Mutter einmal die Augen zumacht, so wird sie's vielleicht im Lächeln tun und wird sagen können: ich bin doch immer recht glücklich gewesen! – Sag mal – kannst du mehr verlangen?«
»Aber sie soll nicht sterben!« rief Elsbeth.
»Warum nicht?« fragte er, »ist der Tod denn so schlimm?«
»Für sie nicht – aber für mich.«
»Auf einen selber kann es da nie ankommen,« erwiderte er, die Lippen hart zusammenpressend, »man muß eben sehen wie man mit sich fertig wird. – – Der Tod ist nur dann schlimm, wenn man sein Lebtag auf das Glück gewartet hat, und es ist nicht gekommen. Da muß einem zumute sein, wie wenn man hungrig von einem reichbesetzten Tische aufsteht, und das möcht' ich jedem Menschen ersparen, den ich liebhabe. – Sieh mal, ich hab' auch eine Mutter – die hat auch mal glücklich sein wollen und möcht' es jetzt noch gar zu gerne – ich bin der einzige, der ihr die Sorge vom Halse schaffen könnte, und ich bin nicht imstande dazu. Was meinst du, wie mir da zumute sein muß? Ich seh', wie sie alt wird in Gram und Not ... ich kann die Runzeln zählen auf ihrer Stirn und ihren Backen ...
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