Aber die Mutter, die Mutter vertraute ihm!
Wenn sie miteinander allein waren – und sie waren während der Schulzeit fast immer allein – dann öffnete sich ihr Mund und mit dem Munde das Herz, und das »weiße Haus« stieg aus ihren Erzählungen immer höher und leuchtender vor seinen Augen empor. Bald kannte er jedes Zimmer, jede Laube im Garten, den grünumbuschten Weiher mit der spiegelnden Glaskugel davor und die Sonnenuhr auf der Terrasse; man denke, eine Uhr, auf welcher die liebe Sonne selbst die Stunden anzeigen mußte. Welch ein Wunder!
Er hätte mit geschlossenen Augen auf Helenental umhergehen können und sich dennoch nicht verirrt.
Und wenn er mit Klötzchen spielte, dann baute er sich ein weißes Haus mit Terrassen und Sonnenuhren – zwei Dutzend auf einmal! – grub Teiche in den Sand und befestigte Murmelsteine auf kleinen Pfählen, um die Glaskugeln anzudeuten. Aber freilich, spiegeln taten sie nicht.
3
Zu derselben Zeit faßte er den Plan, dem »weißen Hause« einen Besuch abzustatten. Ganz auf eigene Faust. Er verschob es auf den Frühling, als aber der Frühling kam, fand er nicht den Mut dazu. Er verschob es auf den Sommer, aber auch dann kamen allerhand Hindernisse dazwischen. Einmal hatte er einen großen Hund allein auf der Wiese umherstreichen sehen – wer konnte wissen, ob es nicht ein toller war? – und ein andermal war ihm der Bulle mit gesenkten Hörnern auf den Leib gerückt.
»Ja, wenn ich groß sein werde, wie die Brüder,« so tröstete er sich, »und in die Schule gehe, dann werde ich mir einen Stock nehmen und den tollen Hund totschlagen, und den Bullen werd' ich bei den Hörnern fassen, daß er mir nichts tun kann.«
Und er verschob es auf das nächste Jahr; denn dann sollte er beginnen, in die Schule zu gehen, ganz wie die großen Brüder.
Die großen Brüder waren Gegenstand seiner Anbetung. Zu werden wie sie, erschien ihm das letzte Ziel menschlicher Wünsche. Auf Pferden reiten – auf großen wirklichen, nicht bloß auf hölzernen – Schlittschuh laufen, schwimmen ganz ohne Binsen und Schweinsblasen und Vorhemdchen tragen, weiße, gestärkte, die mit Bändern um den Leib befestigt werden, ach, wer das könnte!
Aber dazu muß man erst groß sein, tröstete er sich. Diese Gedanken behielt er ganz für sich, der Mutter mochte er sie nicht sagen, und den Brüdern selbst, – o die machten sich sehr wenig mit ihm zu schaffen. Er war ein solcher Knirps in ihren Augen, und wenn die Mutter bestimmte, daß sie ihn irgendwohin mitnähmen, waren sie unwillig, denn dann mußten sie auf ihn achtgeben und um seiner Dummheit willen die schönsten Streiche aufgeben. Paul fühlte das wohl, und um ihren bösen Gesichtern und noch böseren Püffen auszuweichen, sagte er meistens, er wolle lieber zu Hause bleiben, mochte ihm auch noch so weh ums Herze sein. Dann setzte er sich auf den Pumpenschwengel, und während er sich leise hin und her schaukelte, träumte er von den Zeiten, da er's den Brüdern gleichtun wollte.
Auch im Lernen. – Und das war keine Kleinigkeit, denn beide, Max sowohl wie Gottfried, saßen die Ersten in ihrer Schule und brachten zu den Feiertagen stets sehr schöne Zeugnisse mit nach Hause. Wie schön die waren, ersieht man daraus, daß sie ihnen von dem Vater je einen Silbergroschen, von der Mutter eine Honigstulle eintrugen.
An einem solchen Freudentage hörte er den Vater sagen: »Ja, wenn ich die beiden Ältesten in eine gute Schule geben könnte, da würde was aus ihnen werden, denn sie haben ganz meinen aufgeweckten Kopf, aber Bettler, wie wir sind, werden wir sie wohl auch zu Bettlern erziehen müssen.«
Paul dachte viel darüber nach, denn er wußte bereits, daß Max zum Feldmarschall und Gottfried zum Feldzeugmeister geboren sei. Es hatte sich nämlich einmal ein Ruppiner Bilderbogen mit Abbildungen der österreichischen Armee in das Heidehaus verirrt, und an diesem Tage waren die Brüder einig geworden, die beiden höchsten Würden der Generalität unter sich zu verteilen, während ihm, dem Jüngeren, eine Unterleutnantsstelle zufallen sollte. Seitdem war allerdings eine Periode gekommen, in der der eine den Beruf zum Trapper, der andere zum Indianerhäuptling in sich fühlte, aber Pauls Gedanken blieben an jenen goldgestickten Uniformen haften, mit denen die hölzernen Speere und die aus Lumpen zusammengeflickten Sandalen, wie sie die Brüder beim Spielen trugen – die letzteren nannten sie »Mokassins« – keinen Vergleich aushalten konnten. Auch warum sie später wieder Naturforscher und Superintendenten werden wollten, blieb ihm unverständlich – die Neu-Ruppiner Bilder waren doch das beste.
Zu derselben Zeit begannen die Zwillinge gehen zu lernen. Käthe, die ältere – sie war um dreiviertel Stunden früher zur Welt gekommen – machte den Anfang, und Grete folgte ihr drei Tage später nach.
Das war ein bedeutungsvolles Ereignis in Pauls Leben. Plötzlich stand er gebannt in einem Kreis von Pflichten, der ihn so bald nicht wieder freilassen sollte.
Niemand hatte ihm aufgetragen, die ersten Schritte der kleinen Schwestern zu bewachen; aber so selbstverständlich es stets gewesen war, daß er seine Schuhe schon am Abend putzte und die der Brüder dazu, daß er sein Röckchen viereckig zusammengefaltet zu Kopfenden des Bettes niederlegte und die beiden Strümpfe kreuzweise darüber, daß er nie einen Flecken ins Tischtuch machte, und daß er vom Vater einen Denkzettel erhielt, wenn das Unglück einem der Brüder passierte, so selbstverständlich war es auch, daß er sich fortan der kleinen Schwestern annahm und mit altkluger Sorge über ihren tollkühnen Steh- und Gehkunststücken wachte.
Er kam sich so wichtig in diesem neuen Amte vor, daß selbst die Sehnsucht nach der Schule geringer wurde, und hätte er allenfalls noch – pfeifen können, das Maß seiner Wünsche wäre voll gewesen.
Ja, pfeifen können, wie Jons, der Knecht, oder auch nur wie die älteren Brüder, das war nun das Ziel seiner Träume, der Gegenstand unaufhörlicher Studien. Aber er mochte noch so viel den Mund spitzen und noch so viel die Lippen anfeuchten, um sie geschmeidig zu machen, kein Ton kam zum Vorschein. Ja, wenn er die Luft einzog, dann ging es allenfalls – einmal war es ihm sogar gelungen, die ersten vier Töne von »Ist ein Jud' ins Wasser gefallen« hervorzubringen, aber jeder zünftige Pfeifer weiß, daß die Luft zum Munde hinausgestoßen werden muß, und das gerade war es, was er nicht lernen konnte.
Auch hierin tröstete er sich mit dem Gedanken: »Wenn ich erst groß sein werde.«
Die Weihnachten dieses Jahres brachten eine Freudenbotschaft. Von der »guten Tante« aus der Stadt, einer Schwester seiner Mutter, traf eine Kiste ein mit allerhand schönen und nützlichen Sachen, Bücher und Hemdenzeug für die Brüder, Kleidchen für die Schwestern und für ihn ein Samtrock, ein wirklicher Samtrock, mit Husarenschnüren und großen blanken Knöpfen. – Das war eine Freude! – Aber die allerschönste Bescherung stand erst in dem Briefe, den die Mutter mit Tränen der Rührung und der Freude vorlas. Die gute Tante schrieb, daß sie aus dem letzten Briefe »Elsbeths« ersehen habe, wie es ihres Mannes höchster Wunsch sei, den beiden ältesten Knaben eine bessere Schulbildung zu geben, und daß sie sich infolgedessen entschlossen habe, sie zu sich ins Haus zu nehmen und sie das Gymnasium auf eigene Kosten durchmachen zu lassen. Die Brüder jauchzten, die Mutter weinte, der Vater rannte in der Stube umher, fuhr sich mit der Hand durch die Haare und murmelte aufgeregte Worte.
Er saß derweilen ganz still am Bettchen der Schwestern und freute sich innerlich.
Da kam die Mutter zu ihm heran, barg das Antlitz in seinen Haaren und sagte: »Wirst du es auch einmal so gut haben, mein Junge?«
»Ach der!« sagte der Vater, »der kapiert ja nichts.«
»Er ist noch so jung!« erwiderte die Mutter, seine Wangen streichelnd, und dann zog sie ihm den schönen Samtrock an; den durfte er, weil's Feiertag war, bis zum Abend anbehalten. Und auch die Brüder kamen und herzten ihn, teils weil ihnen das Herz so voll von Freude war, teils des schönen Samtrockes wegen. So gut waren sie niemals zu ihm gewesen.
Ja, das waren Weihnachten!
Und als der Frühling sich näherte, ging's an ein großes Nähen und Sticken für die Aussteuer. Paul durfte beim Zuschneiden behilflich sein, die Elle halten und die Schere zureichen, und die Zwillinge lagen auf der Erde und wühlten in der weißen Leinwand.
Die Brüder wurden ausgestattet wie zwei Prinzen.
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