Nichts wurde vergessen. Selbst Schlipse bekamen sie, die hatte die Mutter aus einer alten Taftmantille zurechtgeschneidert.

Die Brüder waren in dieser Zeit ungeheuer stolz. Sie spielten bereits die Herren, jeder auf seine Weise. Max drehte sich Zigaretten, indem er Knaster aus des Vaters Tabakskasten in kleine Papiertüten schüttete, die er dann an dem breiten Ende in Brand steckte, und Gottfried setzte sich eine Brille auf, die er in der Schule für sechs Hosenknöpfe erstanden hatte.

»Gefall' ich dir so?« fragte er, vor Paul hin und her stolzierend, und da dieser »ja« sagte, wurde er abgeküßt; hätte er »nein« gesagt, würde er einen Katzenkopf bekommen haben.

Gleich nach Ostern fuhren die beiden Brüder ab. Das gab viel Tränen im Hause. Als aber der Wagen zum Hoftor hinausgerollt war, da preßte die Mutter ihr tränenüberströmtes Gesicht gegen Pauls Wange und flüsterte: »Du bist lange vernachlässigt worden, mein armes Kind; jetzt sind wir wieder zu zweien wie vordem.«

»Mama, au Tuß!« schrie die kleine Käthe, die Ärmchen ausreckend, und ihre Schwester tat desgleichen.

»Ja, ihr seid ja auch noch da!« rief die Mutter, und heller Sonnenschein leuchtete über ihr blasses Gesicht.

Und dann nahm sie jede auf einen Arm, trat mit ihnen ans Fenster und schaute lange nach dem »weißen Hause« hinüber.

Paul steckte den Kopf zwischen den Falten ihres Kleides hervor und tat desgleichen.

Die Mutter senkte den Blick zu ihm herab, und als er seinem altklugen Kinderauge begegnete, errötete sie ein wenig und lächelte. Aber keines sprach ein Wort.

Als der Vater aus der Stadt zurückkam, verlangte er, daß Paul anfangen sollte, in die Schule zu gehen. –

Die Mutter wurde sehr traurig und bat, ihn doch noch ein halbes Jahr daheimzulassen, damit sie sich nicht allzusehr nach den beiden Ältesten bange, sie wolle ihn selber unterrichten und weiter bringen, als der Lehrer es vermöchte. Aber der Vater wollte nichts davon wissen und schalt sie eine Tränenliese.

Paul bekam einen Schreck. – Die Sehnsucht nach der Schule, die ihn früher stets erfüllt hatte, war ganz verschwunden; freilich, jetzt waren ja auch die Brüder nicht mehr da, denen er nachzueifern hatte.

Am nächsten Tage nahm der Vater ihn bei der Hand und führte ihn ins Dorf hinüber, dessen erste Häuser etwa zweitausend Schritt von dem Meyhöferschen Grundstück entfernt lagen.

Immerhin ein tüchtiges Stück Weges für einen so kleinen Burschen.

Aber Paul hielt sich wacker. Er hatte so große Furcht, vom Vater Schläge zu bekommen, daß er bis an das Weltende marschiert wäre.

Die Schule war ein niedriges, strohbedecktes Gebäude, nicht viel anders wie ein Bauernhaus, aber daneben standen allerhand hohe Stangen mit Leitern und Gerüsten.

»Daran werden die faulen Kinder aufgehängt,« erklärte der Vater.

Pauls Angst erhöhte sich noch; als aber der Lehrer, ein freundlicher, alter Mann mit weißen Bartstoppeln und einer fettigen Weste, ihn zu sich aufs Knie nahm und ihm ein schönes, buntes Bilderbuch zeigte, da wurde er wieder ruhig, nur die vielen fremden Gesichter, die von den Bänken her nach ihm hinstarrten, schienen ihm nichts Gutes zu bedeuten.

Er erhielt den letzten Platz und mußte zwei Stunden lang Grundstriche auf die Schiefertafel malen.

In der Zwischenpause kamen die großen Jungen an ihn heran und fragten nach seinem Frühstücksbrote, und als sie sahen, daß es mit Schlackwurst belegt war, nahmen sie es ihm fort. Er ließ sich das ruhig gefallen, denn er glaubte, es müsse so sein. Beim Nachhausegehen prügelten sie ihn, und einer stopfte ihm Nesseln in den Halskragen. Er glaubte, auch das müsse so sein, denn er war ja der Kleinste; aber als er die Häuser des Dorfes hinter sich hatte und einsam auf der sonnbeglänzten Heide daherging, da fing er zu weinen an. Er warf sich unter einem Wacholderbusch nieder und starrte zum blauen Himmel in die Höhe, wo die Schwalben hin und her schossen.

»Ach, wenn du doch auch so fliegen könntest!« dachte er, – da fiel das »weiße Haus« ihm ein.

Er richtete sich auf und suchte es mit den Augen. Wie das verzauberte Schloß, von welchem die Mutter in ihren Märchen zu erzählen wußte, strahlte es zu ihm herüber. Die Fenster glitzerten wie Karfunkelsteine, und die grünen Büsche wölbten sich ringsum wie eine hundertjährige Dornenhecke.

In seinen Schmerz mischte sich ein Gefühl des Stolzes und des Selbstbewußtseins. »Du bist nun groß,« sagte er sich, »denn du gehst ja in die Schule. Und wenn du jetzt die Wanderschaft antreten wolltest, kann niemand etwas dagegen haben.« Und dann kam wieder die Angst über ihn. Der böse Bulle und die tollen Hunde – man kann ja nicht wissen. Er beschloß, sich die Sache bis zum nächsten Sonntage zu überlegen.

Aber das »weiße Haus« ließ ihm fortan keine Ruhe. Jedesmal, wenn er über die Heide ging, fragte er sich, was denn eigentlich an jenem Wege Schlimmeres wäre als an dem nach der Schule. Freilich, die Fahrstraße – die lief durch einen dunklen Fichtenwald, und in solchen Wäldern hausen allerhand Zwerge und Hexen, auch Wölfe kommen nicht selten darin vor, wie die Geschichte vom Rotkäppchen zeigt, aber wenn er quer über die Wiese ging, dann behielt er das Heimathaus stets in den Augen und konnte des Rückweges sicher sein.

Der Gang erschien ihm wie eine Ehrenpflicht, die er jetzt, da er »groß« sei, zu erfüllen habe, und wenn die Angst aufs neue in ihm erwachte, schalt er sich einen Feigling. Dies Wort galt in der Schule als eine große Beschimpfung.

Als der Sonntag kam, war er entschlossen, die Fahrt zu wagen. Er schlich sich um den Zaun herum und lief, so rasch er laufen konnte, über die väterlichen Wiesen in der Richtung nach dem »weißen Hause« zu.

Dann kam ein Zaun, der mit leichter Mühe zu überklettern war, und dann ein Stück fremden Heidelandes, auf dem er noch nie gewesen war. Aber auch hier gab es nichts Gefährliches. Das Heidekraut glänzte im Sonnenschein, die welken Katzenpfötchen knisterten zu seinen Füßen, ein warmer Wind strich ihm entgegen. Er versuchte zu pfeifen, aber er mußte noch immer die Luft einziehen, um einen Ton zu erzeugen. Darüber schämte er sich, und ein kleinmütiges Gefühl bemächtigte sich seiner.

Dann kam ein sumpfiges Moor, das wiederum seinem Vater gehörte. Der sprach oft davon.