In seinen guten Stunden, wie sich von selber versteht: in seinen bösen – prügelte er ihn, mit der Elle, mit dem Peitschenstiel, mit dem Geschirrriemen – was er gerade in die Hand bekam. Am meisten Furcht aber hatte Paul vor dieser Hand selber, deren Schläge weher taten als alle Stöcke der Welt. Der Vater hatte eine eigentümliche Manier zu ohrfeigen. Er schlenkerte die Hand ins Gesicht mit den Knebeln nach außen, so daß Nägel und Gelenke blutunterlaufene Male auf den Wangen zurückließen. Diese Art Ohrfeigen nannte er seine »Backentröster,« und wenn er die Absicht hatte, Paul zu prügeln, so rief er ihm in freundlichstem Tone entgegen: »Komm her, mein Sohn, ich will dich trösten.«
Hatte dieser seine Schläge empfangen, so pflegte er zitternd vor Scham und Schmerz auf die Heide hinaus zu laufen, und während er, um die Tränen zu verbeißen, Gesichter schnitt und mit den Fäusten trommelte, pfiff er sich eins.
Im Pfeifen tat er, wie all seine Sehnsucht, sein kindliches Träumen, auch seinen Zorn, seine Entrüstung kund. Die Empfindungen, für die sein ungelenker Geist keinen Ausdruck fand, für die ihm Worte, selbst Gedanken fehlten, die ließ er im Pfeifen kühn und unaufhaltsam in die Einsamkeit hinausströmen. So wußte seine gedrückte, schüchterne Seele sich Luft zu machen. Ganze Symphonien führte er auf – schrill und schreiend zum Beginn, sanfter und sanfter werdend und endlich dahinschmelzend in Wehmut und Entsagung.
Niemand ahnte, welche Kunst er einsam pflegte und wieviel Trost und Erhebung er ihr zu danken hatte, selbst die Mutter nicht. Seit er sie einmal an einem Winterabend, als er, ohne ihrer zu achten, leise vor sich hinpfiff, hatte in Tränen ausbrechen sehen, seitdem unterließ er es, sobald sie in der Nähe war. Er glaubte, es täte ihr wehe; welche Macht ihm in diesen Tönen gegeben war, davon ahnte er nichts.
Nur stolz war er bisweilen, wenn er nach dem »weißen Hause« hinüberschaute, daß er das Pfeifen doch noch gelernt habe, und wenn ihm irgendeine Phantasie insbesondere gelungen schien, so dachte er bei sich: »Wer weiß, ob ihr mich auslachtet, wenn ihr das hören würdet!«
Aber nie wieder war er einem von ihnen begegnet.
6
Seit einiger Zeit trug sich Herr Meyhöfer mit großen Plänen. Er hatte entdeckt, daß das Torfmoor, welches das Heidegehöft in weitem Bogen umspannte, einen sicheren Verdienst zu geben imstande war. Schon zwei- oder dreimal, wenn ihm das Messer an der Kehle gesessen, hatte er als äußersten Notbehelf Torf stechen lassen und je fünf einspännige Fuhren nach der Stadt geschickt. Heimlich, ganz heimlich – denn er war zu stolz, um für einen »ganz gewöhnlichen Torfbauern« gehalten zu werden. Seine Leute hatten dann jedesmal zwanzig bis fünfundzwanzig Mark Barerlös heimgebracht und erzählt, daß noch weit mehr auf diese Art zu gewinnen wäre, weil schwarzer, fester Torf auf dem Markte ein sehr begehrter Artikel sei.
Doch Meyhöfer war nicht zu bewegen, das Moor in dieser Weise auszunutzen. »Ich hab' mich nie mit Kleinigkeiten abgegeben,« sagte er, »ich will lieber im Großen zu Grunde gehen als im Kleinen gewinnen« – und dabei warf er sich in die Brust wie ein Held.
Aber das Moor ließ ihm keine Ruhe. – Es war im September nach einer ausnahmsweise günstigen Ernte, als Löb Levy, der gefällige Freund aller verschuldeten Gutsbesitzer, wöchentlich zwei-, dreimal auf dem Hofe erschien und viel mit dem Herrn zu unterhandeln hatte. Frau Elsbeth zitterte vor Angst, sobald der Jude in seinem schmierigen Kaftan vor dem Hoftor auftauchte; sie setzte sich ans Fenster und folgte unablässig allen Bewegungen der Unterhandelnden. Wenn sie ihren Mann ein nachdenkliches Gesicht machen sah, lief es ihr eiskalt den Nacken hinunter, und erst, wenn er wieder lächelte, wagte auch sie erleichtert aufzuatmen.
Ihr ahnte nichts Gutes, doch traute sie sich nicht, ihren Gatten nach der Art von Geschäften zu fragen, die er mit dem Halsabschneider abzuwickeln hatte.
Sie sollte alsbald im klaren sein. Eines Nachmittags bemerkte Paul, wie auf dem Wege von der Stadt ein seltsames Gefährt dahergehumpelt kam, das in der Ferne aussah wie ein ungeheurer schwarzer Waschkessel auf Rädern. Etwas, das ein Schornstein schien, ragte darüber hinaus und neigte sich, wie ein höflich grüßender Mann, nach rechts und nach links, wenn die Räder auf dem ungleichen Boden schwankten.
Er starrte das Wunder eine Weile an und lief dann zur Mutter, die er eiligst am Rockschoß vor die Türe zog.
Sie legte die Hand über die Augen und spähte auf den Weg hinaus.
»Das ist eine Lokomobile,« sagte sie dann.
Paul war nun so klug wie zuvor. »Was ist das – Lokomobile?« fragte er.
»Das ist eine Dampfmaschine, die überall hingefahren werden kann und die die großen Gutsbesitzer brauchen, um ihre Dreschmaschinen zu treiben – auch eggen und pflügen kann man damit, denn so ein Ding hat mehr Kraft als zehn Pferde.«
»Aber warum läßt es sich dann von Pferden ziehen?« fragte er.
»Weil es sich selber nirgends hinbewegen kann,« war die Antwort.
Das verstand er nicht; »jedenfalls aber,« dachte er, »muß es ein großes Glück sein, solch ein Ding mit dem fremden Namen zu besitzen – und wenn wir einmal reich sein werden –«
In diesem Augenblick kam der Vater in großer Aufregung aus dem Hause gestürzt; er trug auf dem einen Fuß einen Schlafschuh, auf dem andern einen Stiefel und hatte die Halsbinde im Nacken sitzen.
»Sie kommen, sie kommen!« rief er, die Hände zusammenschlagend, und dann umfaßte er die Mutter und tanzte mit ihr mitten auf der Landstraße herum.
Sie sah ihn mit einem großen, verängstigten Blick an, als wollte sie sagen: »Welch neue Torheit hast du angerichtet?« Er aber wollte sie nicht loslassen, und erst als die Zwillinge in ihren rosa Waschkleidchen und dunklen Zwickelzöpfchen aus dem Garten dahergesprungen kamen, machte er sich an diese, nahm sie auf seine Arme, ließ sie auf seinen Schultern tanzen und wollte sie über den Graben werfen, so daß die Mutter seinem tollen Treiben nur mit flehentlichen Bitten Einhalt tun konnte.
»So, ihr Gesindel,« rief er, »jetzt jubelt und tanzt, jetzt hat alle Not ein Ende – nächsten Frühling messen wir das Geld mit Dreischeffelsäcken.«
Die Mutter sah ihn von der Seite an, sagte aber nichts.
Das Ungetüm kam näher und näher. Paul stand regungslos da, in Schauen versunken. Dann guckte er zur Mutter empor, die ein gar sorgenschweres Gesicht machte, und eine ungewisse Furcht wandelte ihn an, als ob jetzt der Teufel ins Haus gezogen käme, aber dann erinnerte er sich, wie nun sein Wunsch von vorhin in Erfüllung ginge, und er beschloß, dem schwarzen Gaste mit Vertrauen entgegenzukommen.
Inzwischen waren auch die Knechte und die Mägde aus dem Stalle und der Küche herzugeeilt. Die ganze Bewohnerschaft des Heidegehöfts stand längs dem Zaune aufgereiht und schaute dem nahenden Wunder entgegen.
»Aber sag, was willst du damit?« fragte Frau Elsbeth endlich ihren Gatten.
Dieser maß sie mit einem mitleidigen Blick, dann lachte er kurz auf und rief: »Spazieren fahren.«
Frau Elsbeth fragte nicht weiter. Zu dem Großknechte gewandt, legte ihr Mann nun seine Pläne dar; er werde das Torfstechen jetzt im großen beginnen, auch eine Schneide- und Preßmaschine seien schon unterwegs, und morgen in der Frühe könne die Arbeit losgehen. Dann gab er ihm den Auftrag, sich nach dem Dorfe zu begeben und die nötigen Arbeitskräfte anzuwerben. Zehn Mann würden für den Anfang genügen, aber er hoffte, es alsbald auf zwanzig und dreißig zu bringen.
Frau Elsbeth schüttelte stumm den Kopf und ging ins Haus – gerade, als die Lokomobile vor dem Hoftor ankam. – Paul konnte nicht satt werden, zu schauen und zu bewundern. Hinter den gelben Schrauben und Kurbeln schien eine Welt von Geheimnissen zu liegen, die Feuerung mit dem Rost und dem Aschenkasten darunter schien wie der Eingang zu jenen feurigen Ofen, in dem die bekannten drei Männer einst ihren Lobgesang angestimmt hatten – und nun der Schornstein erst, drohend emporgerichtet, mit seinem Kranze von Kienruß und dem Schlunde, der ins Schwarze, Bodenlose hinabzuführen schien – –!
Paul achtete nicht auf das kleine Korbwägelchen, das hinter dem Ungetüm daherrollte und in dem Löb Levy saß mit seinem rotblonden Zottelbart und seinen lustig zwinkernden Äuglein – er achtete nicht auf das Schreien der Fuhrleute und den Jubel der beiden kleinen Schwestern, die wie besessen rings um die Räder tanzten. Starr vor Staunen stand er da, als begriffe er noch immer nicht, was um ihn vorging.
Als er später ins große Zimmer trat, fand er die Mutter in eine Sofaecke gedrückt – weinend.
Er schlang die Arme um ihren Hals; sie aber wehrte ihn sanft von sich ab und sagte: »Geh nach den Kleinen sehen, daß sie nicht unter die Räder kommen.«
»Aber warum weinst du, Mama?«
»Du wirst schon sehen, mein Junge,« sagte sie, sein Haar streichelnd, »Löb Levy ist dabei – du wirst schon sehen.«
Da ward er ganz ärgerlich auf seine Mutter; wo alle sich freuten, warum mußte sie da im Winkel sitzen und weinen? Aber nun war auch ihm die Freude abhanden gekommen, und als er Löb Levy in seinem langen schwarzen Hackenwärmer über den Hof schlenkern sah, hätte er am liebsten dem Karo einen Wink nach seinen Waden hin zukommen lassen.
Die Zwillinge waren ganz von Sinnen vor Freude.
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