– Das war eine wunderschöne Königin, schön wie die Sonne, schöner als alle Mädchen im Land. Nur war sie leider ohne Kopf auf die Welt gekommen. Sie konnte nicht essen, nicht trinken, konnte nicht sehen, nicht lachen und auch nicht küssen. Sie vermochte sich mit ihrem Hofstaat nur durch ihre kleine weiche Hand zu verständigen. Mit den zierlichen Füßen strampelte sie Kriegserklärungen und Todesurteile. Da wurde sie eines Tages von einem Könige besiegt, der zufällig zwei Köpfe hatte, die sich das ganze Jahr in den Haaren lagen und dabei so aufgeregt disputierten, daß keiner den andern zu Wort kommen ließ. Der Oberhofzauberer nahm nun den kleineren der beiden und setzte ihn der Königin auf. Und siehe, er stand ihr vortrefflich. Darauf heiratete der König die Königin, und die beiden lagen einander nun nicht mehr in den Haaren, sondern küßten einander auf Stirn, auf Wangen und Mund und lebten noch lange lange Jahre glücklich und in Freuden ... Verwünschter Unsinn! Seit den Ferien kommt mir die kopflose Königin nicht aus dem Kopf. Wenn ich ein schönes Mädchen sehe, seh ich es ohne Kopf – und erscheine mir dann plötzlich selber als kopflose Königin ... Möglich, daß mir noch mal einer aufgesetzt wird.

 

Frau Gabor kommt mit dem dampfenden Tee, den sie vor Moritz und Melchior auf den Tisch setzt.

 

FRAU GABOR. Hier, Kinder, laßt es euch munden. Guten Abend, Herr Stiefel; wie geht es Ihnen!

MORITZ. Danke, Frau Gabor. – Ich belausche den Reigen dort unten.

FRAU GABOR. Sie sehen aber gar nicht gut aus. – Fühlen Sie sich nicht wohl?

MORITZ. Es hat nichts zu sagen. Ich bin die letzten Abende etwas spät zu Bett gekommen.

MELCHIOR. Denke dir, er hat die ganze Nacht durchgearbeitet.

FRAU GABOR. Sie sollten so etwas nicht tun, Herr Stiefel. Sie sollten sich schonen. Bedenken Sie Ihre Gesundheit. Die Schule ersetzt Ihnen die Gesundheit nicht. – Fleißig spazierengehn in der frischen Luft! Das ist in Ihren Jahren mehr wert als ein korrektes Mittelhochdeutsch.

MORITZ. Ich werde fleißig spazierengehn. Sie haben recht. Man kann auch während des Spazierengehens fleißig sein. Daß ich noch selbst nicht auf den Gedanken gekommen! – Die schriftlichen Arbeiten müßte ich immerhin zu Hause machen.

MELCHIOR.