Wenn ich aufrichtig sein soll, Melchior, so habe ich nämlich tatsächlich das Gefühl, seit ich deinen Aufsatz gelesen. – In den ersten Ferientagen fiel er mir vor die Füße. Ich hatte den Ploetz in der Hand. – Ich verriegelte die Tür und durchflog die flimmernden Zeilen, wie eine aufgeschreckte Eule einen brennenden Wald durchfliegt – ich glaube, ich habe das meiste mit geschlossenen Augen gelesen. Wie eine Reihe dunkler Erinnerungen klangen mir deine Auseinandersetzungen ins Ohr, wie ein Lied, das einer als Kind einst fröhlich vor sich hin gesummt und das ihm, wie er eben im Sterben liegt, herzerschütternd aus dem Mund eines andern entgegentönt. – Am heftigsten zog mich in Mitleidenschaft, was du vom Mädchen schreibst. Ich werde die Eindrücke nicht mehr los. Glaub mir, Melchior, Unrecht leiden zu müssen ist süßer, denn Unrecht tun! Unverschuldet ein so süßes Unrecht über sich ergehen lassen zu müssen, scheint mir der Inbegriff aller irdischen Seligkeit.

MELCHIOR. – Ich will meine Seligkeit nicht als Almosen!

MORITZ. Aber warum denn nicht?

MELCHIOR. Ich will nichts, was ich mir nicht habe erkämpfen müssen!

MORITZ. Ist dann das noch Genuß, Melchior?! – Das Mädchen, Melchior, genießt wie die seligen Götter. Das Mädchen wehrt sich dank seiner Veranlagung. Es hält sich bis zum letzten Augenblick von jeder Bitternis frei, um mit einem Male alle Himmel über sich hereinbrechen zu sehen. Das Mädchen fürchtet die Hölle noch in dem Moment, da es ein erblühendes Paradies wahrnimmt. Sein Empfinden ist so frisch wie der Quell, der dem Fels entspringt. Das Mädchen ergreift einen Pokal, über den noch kein irdischer Hauch geweht, einen Nektarkelch, dessen Inhalt es, wie er flammt und flackert, hinunterschlingt ... Die Befriedigung, die der Mann dabei findet, denke ich mir schal und abgestanden.

MELCHIOR. Denke sie dir, wie du magst, aber behalte sie für dich. – Ich denke sie mir nicht gern ...

 

Zweite Szene

Wohnzimmer.

 

FRAU BERGMANN den Hut auf, die Mantille um, einen Korb am Arm, mit strahlendem Gesicht durch die Mitteltür eintretend. Wendla! – Wendla!

WENDLA erscheint in Unterröckchen und Korsett in der Seitentüre rechts. Was gibt's, Mutter?

FRAU BERGMANN. Du bist schon auf, Kind? – Sieh, das ist schön von dir!

WENDLA. Du warst schon ausgegangen?

FRAU BERGMANN. Zieh dich nun nur flink an! – Du mußt gleich zu Ina hinunter, du mußt ihr den Korb da bringen!

WENDLA sich während des folgenden vollends ankleidend. Du warst bei Ina? – Wie geht es Ina? – Will's noch immer nicht bessern?

FRAU BERGMANN. Denk dir, Wendla, diese Nacht war der Storch bei ihr und hat ihr einen kleinen Jungen gebracht.

WENDLA. Einen Jungen? – Einen Jungen! – O das ist herrlich – Deshalb die langwierige Influenza!

FRAU BERGMANN. Einen prächtigen Jungen!

WENDLA. Den muß ich sehen, Mutter! – So bin ich nun zum dritten Male Tante geworden – Tante von einem Mädchen und zwei Jungens!

FRAU BERGMANN.