Wenige von den Gegenwärtigen bemerkten Gabrielens Eintritt in den Saal, aber diese Wenigen staunten beim Anblick des bleichen, der Kindheit kaum entwachsenen Mädchens im langen schwarzwollnen Trauerkleide, dem tief hinunter wallenden Kreppschleier, mit der breiten, die Stirne bedeckenden Schneppe, unter der sich nur einige ihrer wie Gold glänzenden reichen Locken hervordrängten. Der Tante Prophezeihung ward nicht erfüllt, niemanden fiel es ein, zu lachen, aber jedermann wich ihr mit einer Art Aengstlichkeit aus, denn diese dunkle Erscheinung mitten im festlichen Glanze hatte wirklich etwas Geisterartiges. Vergebens blickte Gabriele um sich her und suchte in dem Gewühl, ein bekanntes Gesicht heraus zu finden, sie erblickte keines; selbst die Gräfin und Aurelia waren nicht gegenwärtig, der Anzug für die Tableaus hielt sie entfernt. Eine schöne Frau mittleren Alters vertrat die Stelle der Frau vom Hause beim Empfang der Gesellschaft. Gabriele fühlte sich mächtig von ihr angezogen, sie glaubte, in ihr eine entfernte Aehnlichkeit mit ihrer Mutter zu finden und konnte kaum den Blick von ihr wenden, aber sie kannte sie nicht und wagte es daher auch nicht, sich ihr zu nähern.
So stand Gabriele lange ganz allein, sah, wie überall Gruppen von Bekannten sich bildeten, wie einzelne Paare einander aufsuchten und sich im eifrigen Gespräch von den übrigen absonderten. Niemand suchte sie, niemand hatte ihr etwas freundliches zu sagen, sie war und blieb einsam mitten in der großen Versammlung und ward darüber recht innerlich betrübt. Der Gedanke, wie sie eigentlich eben so verlassen in der ganzen Welt dastehe als hier in der Gesellschaft, fiel mit lastender Schwere auf ihr nach Liebe sich sehnendes Gemüth. Schon war sie im Begriff, sich von alle den Glücklichern zurückzuziehn und in ihr einsames Zimmer zu schleichen, als sie ihre Hand ergriffen fühlte. Es war der freundliche ältliche Mann, dessen unerwartete Anrede sie am vergangnen Abende so erschreckt hatte, und der ihr jetzt den Arm bot, um sie im Gefolge der übrigen Gesellschaft in das zu den Tableaus bestimmte Zimmer zu führen.
Eine von Haydns herrlichsten Symphonieen verkündete dort das nahe Aufrauschen des die Darstellung noch verhüllenden Vorhangs. Nie zuvor hatte Gabriele den Einklang vieler Instrumente zugleich gehört, er ergriff sie mit seinem allgewaltigen Zauber, vor welchem alles Beengende von ihr abzufallen schien. Die Töne trugen sie weit weg auf unsichtbaren Flügeln in ihr magisches Reich, sie sprachen mit ihr von ihrer Vergangenheit, von allem, was ehemals sie beglückt hatte, und hauchten ihr neue Freude am Leben und frischen Jugendmuth ein. Die Dämmrung in dem nur durch die Lichter der Nebenzimmer schwacherleuchteten Saal erlaubte es ihr, ungehindert sich ihrem Gefühl zu überlassen; ihr Führer war neben ihrem Sitz stehen geblieben; mit dankbarem Vertrauen blickte sie zu ihm auf und entdeckte im nehmlichen Moment dicht neben ihm Ottokars hohe Gestalt, der sie begrüßend sich gegen sie verbeugte.
Ein Gruß im gewöhnlichen Gange des Lebens ist gar wenig, aber unendlich viel für den, der vereinzelt in einer großen Gesellschaft, mit dem Gefühl der Verlassenheit dasteht; dies Zeichen des Bemerktwerdens, gerade von ihm, gab Gabrielen ein so tröstendes Selbstbewußtseyn, daß sie dadurch beruhigt, in den Stand gesetzt ward, sich des eben beginnenden Schauspiels wirklich theilnehmend zu erfreuen.
Tante Kleopatra nahm sich auf ihrem königlichen Thron zum Bewundern gut aus. Mit aller ersinnlichen Grazie hielt sie die reiche Perle über den Becher, und hatte keine Ahnung von den Anmerkungen, die links und rechts unter den Zuschauern hingeflüstert wurden. Dreimal senkte sich der Vorhang, dreimal mußte er auf lautes Bitten der Anwesenden sich wieder heben, die alle behaupteten, des herrlichen Anblicks gar nicht müde werden zu können.
Am entzücktesten stellte sich die Gräfin Eugenia, ihr Beifall war der rauschendste und kannte weder Maaß noch Ziel, während sie zu gleicher Zeit tausend witzigboshafte Einfälle über die herbstliche Kleopatra und ihren das Schmuckkästchen tragenden Edelknaben den jungen Herren zuflüsterte, die dicht zusammengedrängt hinter ihrem Stuhle standen, ihr aufs kräftigste applaudiren halfen, und dabei jedes ihrer Worte mit allen Zeichen des Beifalls von ihren Lippen gierig auffingen. Sie saß so nahe bei der von ihr ganz übersehenen Gabriele, daß diese keine Sylbe von dem, was sie sprach, verlieren konnte; auch manches andre spottende Wort einiger der übrigen Anwesenden traf deren Ohr und kontrastirte so sehr mit der, von allen laut ausgesprochnen Bewunderung, daß Gabriele ein innres Grausen über die Falschheit der Menschen empfand, unter denen sie leben sollte. Ihr war zu Muthe, als sey sie unter gespenstische Larven gefallen, die im nächsten Moment sich umwandeln und in eigenthümlicher, fürchterlicher Gestalt dastehen müßten. Wie nach Rettung sah sie ängstlich um sich her.
»Seyn sie ruhig, liebes Fräulein!« flüsterte eine leise Stimme ihr zu,« auch ich sehe und höre, was Sie empört, aber es ist nicht so böse, als Sie in ihrer Unschuld es glauben.« Verwundert blickte Gabriele auf und sah ihren Führer, der noch immer neben ihr stand. Seine Gegenwart erschien ihr in diesem Moment wie ein Trost vom Himmel. »Die Welt,« fuhr der freundliche Mann mit mildem Lächeln fort, indem er zu ihr sich hinabbeugte, »die Welt ist leider lange nicht so gut, als Sie in ihrer Unerfahrenheit es vielleicht noch vor acht Tagen glaubten, aber auch wahrlich lange nicht so arg, als sie jetzt Ihnen vorkommen muß. Diese kleinen Bosheiten, vor denen Sie sich in diesem Augenblick mit Recht entsetzen, werden Ihnen in kurzem ziemlich harmlos scheinen, wenn Sie diese Menschen und ihr wahres Meinen erst näher kennen, denn in der That diese Einfälle haben keinen Zweck und erreichen auch keinen, wie den, für den Moment als witzig bewundert zu werden. Sie werden sich daran gewöhnen und sie endlich ganz gleichgültig betrachten.« »Nie! nie!« rief Gabriele so laut, daß sie selbst darüber erschrak, besonders da sie gewahr ward, daß der noch immer in ihrer Nähe sich befindende Ottokar dadurch aufmerksam auf ihr Gespräch gemacht ward. »Gewiß!« erwiederte ihr Führer leise und beschwichtigend, indem er zugleich auf den sich wieder hebenden Vorhang hinwies.
Mehrere Tableaus folgten dem der Kleopatra, alle wurden laut gepriesen und leise bekrittelt, bis ganz zuletzt Aurelia in wahrhaft himmlischer Glorie als Raphaels Jardiniere erschien. Die Kinder standen so anmuthig da, sie selbst war in dieser Stellung mit gesenktem Auge so hinreißend schön, daß sogar der Neid verstummen mußte. Ein einziger Athemzug der Bewunderung säuselte durch die Stille des glänzenden Kreises und löste sich erst spät in lauten Beifall auf. Gabrielens für Freude glänzendes Auge traf auf Ottokarn, Dieser starrte vorgebeugt, wie in Bewunderung verloren, noch immer den Vorhang an, welcher schon lange die holde Erscheinung verhüllt hatte. Als sich Ottokar endlich wandte, traf sein Blick auf Gabrielen, er lächelte ihr in theilnehmendem Entzücken wie einer Bekannten zu, und dieser kleine Zufall durchströmte sie mit Empfindungen, die sie zu verstehen weit entfernt war.
Die Gesellschaft vertheilte sich wieder in den Nebenzimmern, um dort die Damen des Hauses nebst den übrigen bei den Tableaus beschäftigt gewesenen Personen zu erwarten und nochmals mit Bewunderung und Dank zu überschütten. Gabriele blieb mit ihrem Begleiter beinah allein in dem dämmernden Saal, und er benutzte diese Pause, um sich ihr als einen Maler zu erkennen zu geben, dessen bedeutender Name im neuern Gebiet der Kunst ihr schon rühmlichst bekannt war. Signor Ernesto hatte man ihn der Landessitte gemäß in Italien genannt, wo jeder Zuname dem Taufnamen weichen muß, und diese Benennung blieb ihm auch in der Gesellschaft, seitdem er vor kurzem nach einem, viele Jahre langen Aufenthalt in Rom, wieder in sein deutsches Vaterland zurückkehrte.
»Ich war gestern bei Ihrer Ankunft zugegen, mein theures Fräulein,« sprach Ernesto weiter zu Gabrielen, »ich erkannte in Ihnen beim ersten Blick das Ebenbild Ihrer Mutter; so wie Sie jetzt vor mir stehen, so sah ich sie einst in Rom, jugendlich blühend, mit glänzendem Auge vor den hohen Wundern der unsterblichen Kunst. Mir ward das seltene Glück, ihr Begleiter auf ihren Wanderungen durch die Königin der Städte, ihr erster Lehrer in der bildenden Kunst zu seyn; ich werde auch Ihr Lehrer, Gabriele, ich habe mich schon gestern bei der Gräfin dazu erboten, sobald ich den Zweck Ihres hiesigen Aufenthaltes vernahm. Schlagen Sie es mir nicht ab, Sie brauchen einen väterlichen Freund zu Schutz und Rath, der will ich Ihnen werden, und ich kann es nur, wenn der Unterricht im Zeichnen mir Gelegenheit verschafft, Sie täglich ohne äußre Störung zu sehen.
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