Aber als sie weiterhin ihn selbst durch die halb geöffnete Thüre eines Zimmers erblickte, und dadurch die Gewißheit erhielt, mit ihm in Einem Hause zu leben, ihn alle Tage zu sehen und zu hören, da bemächtigte sich ihrer ein freudig-ängstliches Gefühl. Es war ein Glück für sie, daß die Gräfin, zu beschäftigt mit Anordnungen für den Abend, Gabrielens Eintritt kaum bemerkte und noch weniger ihr höchst befangnes Wesen. Kurz, aber freundlich entließ die Tante sie gleich in der ersten Minute, und gab ihr nur noch die Weisung mit auf den Weg, sich zu Aurelien zu begeben, die sie in ihrem Zimmer finden würde, umringt von Freundinnen, welche heut mit einander in Geschenken zu ihrem zwanzigsten Geburtstage wetteiferten.
Den Geburtstag hatte die arme Gabriele ganz vergessen, und ein Geschenk für die gefürchtete Kusine setzte sie in die höchste Verlegenheit. Sie eilte zurück in ihr Zimmer, ergriff ohne große Wahl eine ihrer besten Zeichnungen und betrat damit athemlos die Schwelle des zierlichen Zimmers, in welchem Aurelia in frischer, einfacher Morgentracht, schön wie der junge Tag, vor einem großen Tische stand, auf dem alles ausgebreitet lag was die Mode in unsern Tagen köstliches und elegantes zum Schmuck der Jugend erfand. Eine Schaar junger Mädchen half ihr alle die Geschenke bewundern, mustern und ordnen, mitten unter ihnen stand Ottokar mit sichtbarer Freude an dem jugendlichen Wesen und Treiben. Die seltensten, schönsten Blumen aller Jahreszeiten und Zonen blüheten und dufteten an Wänden und Fenstern. Gabriele erkannte die Blüthen auf den ersten Blick für die nehmlichen, welche Lorenz vorhin an ihr vorüber trug.
Da kommt unser kleiner Eigensinn von gestern Abend, rief Aurelie, als sie Gabrielen erblickte, und trat freundlich der Verlegnen entgegen, die es kaum wagen mochte, ihr bescheidnes Geschenk neben allen jenen Herrlichkeiten zu zeigen. Das ist ja leibhaftig die Gespensterburg deines Vaters, fuhr Aurelia fort, indem sie die Zeichnung besah; so nimmt sie sich vortrefflich aus, aber behüte mich der Himmel davor, sie in der Wirklichkeit wieder zu sehen! Gemalt sind die alten Schlösser ganz allerliebst; auch auf dem Theater oder in Romanen mag ich sie wohl leiden, besonders wenn ganz erschrecklich wundersame Begebenheiten sich darin zutragen, aber sitzt man selbst in solch einem alten Neste und lebt so allein fort, ohne etwas zu erleben, dann thäte man besser, vor Graun und Langeweile zu sterben. Ich wundre mich wirklich, daß ich während der zwei Tage im Schloß Aarheim noch mit dem Leben davon kam. Es ist eine betrübte Existenz; danke Gott, liebes Kind, daß du ihr entronnen und bei uns bist, du wärst dort auch so eine Art von Käuzlein in den krausen alten Thürmen geworden; Anlagen hast du dazu, sprach sie lächelnd, indem sie Gabrielen umarmte und sie dann allen ihren gegenwärtigen Freundinnen der Reihe nach vorstellte.
Die Menge der Namen rauschte an Gabrielens Ohr vorüber, ohne daß sie einen zu fassen vermochte, nur fiel es ihr auf, daß auch die Gräfin Eugenia sich unter den Glück wünschenden Freundinnen befand. Diese hier zu sehen, hätte sie nach der Scene des gestrigen Abends nicht erwartet, noch weniger in so anscheinend vertrautem Verhältniß mit Aurelien. Alle die jungen Damen waren gegen Gabrielen sehr zuvorkommend freundlich; aber diese blieb verlegen, sie haßte sich selbst in diesem Moment wegen ihrer Unbehülflichkeit, die sie doch nicht abzuwerfen vermochte. Ihre Bänglichkeit stieg mit jeder Minute, denn sie sah, daß Ottokar ihre Zeichnung aufmerksam betrachtete; und als er nun vollends die geistreich kühne und dennoch vollendete Ausführung derselben lobte, und sich mit der Frage nach dem Namen des Künstlers an sie wendete, da konnte Gabriele vor gewaltigem Herzklopfen kaum ihre eigne Antwort hören, daß sie selbst unter Anleitung ihrer Mutter sie gezeichnet habe. Er sprach noch einige lobende Worte und verließ bald darauf die Gesellschaft.
Gabriele langte bei ihrer Dalling mit dem Gefühl an, als sey eine höchst wichtige Begebenheit vorgefallen, etwas ganz Unerhörtes geschehen, das sie der Einzigen kund thun müsse, die noch in der Welt Theil an ihrem Schicksal nahm; und dennoch wußte sie nichts zu sagen, was sich nicht in der Erzählung höchst gewöhnlich ausgenommen hätte. Eine nie gefühlte Unruhe trieb sie rastlos umher. Wenn sie ihres ungeschickten Benehmens gegen Aureliens Freundinnen gedachte, wenn sie sich errinnerte, wie jene von ihrem Aeußern und ihrem Betragen irre geführt, sie wie ein Kind behandelt hatten, dem man freundlich thut, damit es nur nicht weine; dann verging sie fast in der fürchterlichen Qual, sich ihrer selbst zu schämen, denn sie konnte es sich nicht verhehlen, daß sie größtentheils durch eigne Schuld in diesem Lichte erschienen war. Ottokars Lob ihrer Zeichnung vermochte nicht, sie zu trösten, sie glaubte eine Spur ungläubigen Lächelns an ihm bemerkt zu haben, da sie sich selbst nannte, als er nach dem Namen des Künstlers gefragt hatte, und dieß kränkte sie noch tiefer als alles übrige. Frau Dalling selbst war in diesem Moment über die auf den folgenden Morgen bestimmte Trennung von dem Liebling ihres Herzens zu betrübt, als daß sie fähig gewesen wäre, Gabrielen Trost und Muth einzusprechen, sie verstand sogar den Kummer und das beklommne, unruhige Wesen derselben nicht, sondern schrieb alles dem Gefühl zu, von dem sie selbst niedergebeugt ward. Und so wußte die gute Frau nichts beßres zu thun, als Gabrielen recht mütterlich in ihre Arme zu schließen und herzlich mit ihr zu weinen, da diese, von innerm Weh überwunden, zuletzt in heiße, bittre Thränen ausbrach.
Gabriele errang auch dießmal ihre gewohnte Fassung zuerst wieder. »Ich will nicht mehr weinen,« sprach sie, trocknete ihre Augen und richtete sich hoch auf. »Laß mich jetzt von dir Abschied nehmen, liebe Dalling,« setzte sie hinzu, »jetzt in dieser ruhigen Stunde, nicht heute Abend, wenn ich erschöpft aus der Gesellschaft komme, nicht morgen früh im Geräusch des Einpackens und der Abreise. Du gehst mit Tagesanbruch von mir, geleite dich Gott, du meine einzige Freundin in dieser Welt, grüße meine Berge, meine Bäume, meine Blumen; ich war unter ihnen sehr glücklich, aber auch hier werde ich nicht unglücklich seyn, der Gedanke an meine Mutter wird mich vor Unrecht behüten, und alles andre ist zu ertragen. Noch bin ich hier fremd, noch ist mir alles ungewohnt, und der Abstand zwischen jetzt und ehemals ist sehr groß; aber ich werde mich eingewöhnen und lernen, was mir noch fehlt, um in diesen neuen Verhältnissen mich zurecht zu finden. Mein Vater schickte mich her, um mich für die Welt zu bilden; sage ihm, daß ich ihm gehorsam seyn und alles thun werde, seinen Wunsch zu erfüllen so viel ich es vermag. Und nun nimm meinen Dank für deine unaussprechliche Liebe und Treue. Sehnen werde ich mich immer nach dir, aber glaube nur, ich weiß es, ich finde auch hier ein Wesen, das ich lieben kann, und bin dann glücklich; laß dieß nochmals dir zum Troste gesagt seyn, wenn du im Schloß Aarheim sorgend meiner gedenkst.«
Bei aller ihrer mühsam errungnen Fassung sah Gabriele dennoch mit Zittern der Stunde entgegen, in welcher sie sich am Abend zur Gesellschaft begeben mußte; sie fürchtete neue Verlegenheiten, neue Demüthigungen, ohnerachtet sie sich fest vorgenommen hatte, ihre scheue Blödigkeit so viel möglich zu besiegen. Kein Zureden Aureliens und ihrer Kammerjungfern, sogar nicht das Zürnen der Tante hatten sie bewegen können, in ihrer, die tiefste Trauer bezeichnenden Kleidung etwas abzuändern. Selbst dem Bitten ihrer lieben Frau Dalling hatte sie widerstanden, die durch die Wichtigkeit, welche man der Sache gab, in ihrer eignen Ansicht wankend geworden war. »So geh denn, eigensinniges Kind!« entschied endlich die Tante, des Streitens müde, »geh wie du willst und verdanke dir es selbst, wenn du ausgelacht wirst.«
Die vielen Lichter, die emsig hin und her laufenden Diener, die glänzende Versammlung in der langen Reihe prächtig dekorirter Zimmer erregten in Gabrielen jene Art Bangigkeit, welche wohl einen Jeden beim ersten Eintritt in die Welt ergreift, der auch nicht so klösterlich aufwuchs wie sie. Giebt es doch viele in der Gesellschaft, denen dieß Gefühl zeitlebens bleibt, selbst aus den höhern Ständen, die für abstoßend stolz gelten, während sie nur verlegen sind.
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