Augustens Vater leitete fortwährend mit unsichtbarer Hand sein Geschick; er hatte den Zweck erreicht, ihn auf immer von seiner Tochter zu trennen, und war übrigens nicht weniger als sonst für das zeitliche Glück seines ehemaligen Pfleglings besorgt. Er glaubte sogar, ihm gewissermaaßen Ersatz schuldig zu seyn, und ebnete deshalb, so viel er es konnte, Ferdinands Weg auf der einmal angetretnen Laufbahn seines Strebens, ohne daß dieser es ahnete. Bis Konstantinopel hatte er ihn zu bringen gewußt, als der Tod ihn in Schweden übereilte. An der südlichsten Gränze von Europa erfuhr Ferdinand sehr spät aus den Zeitungen die Nachricht von dem Hinscheiden seines ehemaligen Beschützers, und die weite Entfernung, in der er sich von jenem nördlichen Lande befand, vernichtete den Erfolg jedes schriftlichen Versuches, Augusten, die dort verschwunden war, wieder aufzufinden. Er eilte selbst nach Schweden, sobald seine Verhältnisse es ihm möglich machten, aber vergebens suchte er aufs ängstlichste eine Spur von ihr. In der Residenz war Augustens vorübereilende Erscheinung längst vergessen, in dem kleinen Städtchen, in welchem ihr Vater starb, hatte niemand sie gekannt; nur wenige erinnerten sich ihrer Existenz, keiner wußte nur von ferne anzudeuten, wohin sie sich gewendet haben könne, und in der tiefen Einsamkeit, in welcher sie auf dem Landgute ihrer Tante damals lebte, war und blieb sie ihm verloren.
Ferdinand führte von nun an ein trübes, unstätes Leben, ewig suchend nach dem Glück seiner Jugend und nimmer es findend, bis das Fruchtlose seines Strebens ihm endlich die Ahnung von Augustens Tod zur Gewißheit machte. Jetzt beschwichtigten allmählich wehmüthige Sehnsucht und fromme Hoffnung den wüthenden Schmerz in seinem Innern und wandelten ihn in stille Trauer. Seine äußere Lage befriedigte übrigens alles, was er sonst vom Leben noch wünschen mochte, denn er war durch Thätigkeit und Treue im Dienst seines Fürsten zu einer bedeutenden Stelle in seinem Vaterlande gelangt. Still und trübe lebte er seine Tage hin, bis er einst von ungefähr ein Fräulein Rosenberg erblickte, dessen auffallende Aehnlichkeit mit der Verlornen alle alte Wunden in seinem Innern wieder erneute.
Zuerst fühlte er sich von dieser Aehnlichkeit bald unwiderstehlich angezogen, bald schmerzlich zurückgestoßen. Sie war Auguste und war es doch nicht, aber bei näherer Bekanntschaft fand er in ihr ein mildtröstendes Wesen, das einzige, dem er je die traurige Geschichte seiner Jugend vertrauen mochte. Des Fräuleins innige Theilnahme an seinem Schmerz, ihre demüthige Verehrung Augustens fesselten ihn immer mehr an ihre Nähe, sie gab ihm den einzigen Trost, der ihm noch werden konnte, und bald kam es dahin, daß kein Tag verging, ohne daß er sie zu sehen suchte.
In zarter Frauen-Brust wandelt sich die Theilnahme an den Leiden eines Freundes nur zu leicht in ein glühenderes Gefühl, und Ferdinand konnte sich endlich nicht mehr die Art des Eindrucks verhehlen, den er und seine Schmerzen auf das Herz seiner jungen Freundin gemacht hatten. Er fühlte zugleich, daß sein der Liebe erstorbnes Gemüth dennoch des Trostes inniger, vertrauensvoller Freundschaft nicht mehr entbehren konnte, nachdem es dessen gewohnt geworden war, und so bat er das Fräulein: sein durch tiefen Gram und ewige Sehnsucht getrübtes Daseyn mit ihm zu theilen, ohne sie über die Art seiner Empfindungen für sie zu täuschen, indem er ihr seine Hand bot.
Der schöne Verein alles opfernder Liebe und treuer, inniger Freundschaft, währte kaum ein Jahr; Ferdinand starb, und Familienverhältnisse bestimmten seine Witwe, den Ort ihres bisherigen Aufenthalts mit der Stadt zu vertauschen, in welcher fast alle ihre Verwandten wohnten, und wo Gabriele sie fand. Frau von Willnangen lebte dort mit ihrer Tochter nicht mitten im Strudel der großen Welt, aber doch auch nicht ganz von ihr abgesondert, sie war nicht reich, aber ihre äußre Lage erlaubte ihr, sich keinen wirklichen Lebensgenuß zu versagen, und ihre anspruchlose Bildung, die milde Würde in ihrem ganzen Wesen zogen bald einen kleinen Kreis auserwählter Freunde um sie her, in dessen Mitte sie sich zu wohl befand, um sich nach rauschendern Freuden zu sehnen. Nur selten erschien sie in größern Gesellschaften und stets ungern.
Die Gräfin Rosenberg ehrte in ihr die nahe Verwandte ihres verstorbenen Gemahls, lieben konnte sie sie nicht, dazu war ihr ganzes Wesen zu sehr von dem der Frau von Willnangen verschieden, und eigentlich sahen beide Damen einander nur selten. Aber da die allgemeine Achtung Frau von Willnangen vor allen Andern auszeichnete, so fühlte die Gräfin sich dadurch bewogen, bei jeder öffentlichen Gelegenheit mit der nahen Verbindung zu prunken, in welcher sie sich gegenseitig befanden. Deshalb hatte sie sie auch gebeten, bei dem Feste die Honneurs des Hauses zu machen, so lange sie selbst abwesend seyn mußte, und da es Aureliens Geburtstage zu Ehren angestellt war, so mochte ihr Frau von Willnangen diese Bitte nicht abschlagen.
Gabriele betrat mit hochbewegter Brust an Ernestos Hand das Haus, in welchem alles, besonders die Besitzerin desselben, sie auf das lebhafteste an ihre Mutter erinnerte. Der freundliche Empfang, der ihr ward, that ihrem, in den letzten Tagen so vielfältig verletzten Gemüth unendlich wohl, und jede Spur der scheuen Blödigkeit, die im Hause der Tante sie ängstlich beklemmt hatte, verschwand vor ihm. Die prunklose, aber bequem-zierliche Einrichtung der Zimmer versetzte sie ganz in die frohe Zeit ihrer ersten Jugend zurück; alles deutete darin auf heitern Lebensgenuß, auf Fleiß und Kunstliebe der Bewohner, alles war so, wie sie es bei ihrer Mutter zu sehen gewohnt gewesen war. Ihr ward in diesen Umgebungen, als ob sie nach einer langen Abwesenheit wieder zu Hause angekommen wäre, und mit wahrer kindlichen Freude hörte sie die Einladung, recht oft, wenn es möglich wäre täglich, zu kommen, und jede freie Stunde bei der Frau von Willnangen und ihrer Tochter in ruhiger Gemüthlichkeit zuzubringen.
Der erste Anblick der achtzehnjährigen Auguste eignete sich durchaus nicht dazu, die Herzen mit Sturm zu erobern. Ihr Aeußeres zeichnete sich nur durch eine hohe, regelmäßig schlanke Gestalt aus, und ihr Gesicht war nichts weniger als schön, so lange sie schwieg; aber der Geist, der es belebte, sobald sie sprach, der Ausdruck, den die klaren, großen Augen dann gewannen, gaben ihr einen ganz eignen Reiz, sie fesselten die Herzen wie die Blicke, man sah Augusten eben so gern sprechen, als man sie hörte, und wurde endlich beinah verleitet, sie schön zu finden. Bei dem neuen Gefühl, sich von einem jungen, ihr ähnlichen Wesen liebevoll umfangen zu sehen, ging Gabrielen in nie zuvor empfundner Freude das Herz auf; ein Vorgefühl jugendlich vertraulicher Freundschaft bemächtigte sich ihrer, und glücklicher, als sie es je seit dem Tode ihrer Mutter gewesen war, verließ sie das Haus der Frau von Willnangen mit dem festen Entschluß, sobald als möglich dahin zurückzukehren.
Gabrielens Tante war eine der Frauen, wie man in großen Städten so viele findet, die mit wahrem Heldenmuth allen ihren Neigungen geradezu entgegen handeln, sobald der eben herrschende Ton es gebeut. Funfzig Jahre früher geboren, hätte sie, schwimmend in Moschus- und Ambra-Duft, mit aller damals üblichen Ziererei einer französischen petite maitresse über Vapeurs geklagt, in Gesellschaft Gold gezupft, oder Trisett gespielt, und ihr Haus wäre eine Menagerie von Schooßhündchen und Papageyen gewesen. Die Zeiten, in denen so etwas galt, sind aber vorüber gezogen, und Kunst und Wissenschaft jetzt bei uns an der Tagesordnung. So sah sich die Gräfin gezwungen, sich zur eifrigen Beschützerin derselben aufzuwerfen, wenn sie sich in dem Kreise, den sie die Welt nannte, geltend machen wollte, und die Langeweile nicht zu achten, welche sie dabei empfand.
Im Grunde waren ihr die Figuren in den Modejournälen weit lieber, als alle Raphaele und Kunstgespräche, von denen sie nichts verstand; die Donaunixe oder Rochus Pumpernickel ergötzten sie weit mehr auf der Bühne als Göthe oder Schiller, bei denen sie immerfort heimlich durch die Nase gähnen mußte; und obgleich in ihrem Kabinette alle unsre vorzüglichsten Dichter in goldigem Einbande hinter Spiegelglas strahlten, so griff sie doch ganz in der Stille nur nach Cramer, Spieß und deren Nachfolgern, wenn Migräne oder eine seltne einsame Stunde ihr ein Buch in die Hand spielten. Dennoch wußte sie durch stete Anstrengung, geleitet von einem angebornen Taktgefühl, diesen ihr eignen Geschmack so künstlich zu verbergen, daß niemand merken konnte, wie sehr alles, wonach sie im Aeußern strebte, ihr im Innern zuwider war. Man konnte lange mit ihr umgehen, und dennoch darauf schwören, sie sey geistreich und unterrichtet. Sie wußte sehr gut, wenn es im Theater Zeit war den Kopf verächtlich wegzuwenden, oder auch in Extase zu gerathen, und in ihrem. Gespräch vermißte man keinen technischen Kunstausdruck, kein einziges der vielen neuen Worte, mit welchen unsre Poeten und Kunstjünger die deutsche Sprache neuerdings bereicherten; sie hatte sich alle durch den Umgang zu eigen gemacht. Es geschah wohl dann und wann, daß sie sich in der Anwendung derselben ein wenig vergriff, aber doch immer selten genug, um nicht auffallend zu werden. In zweifelhaften Fällen half sie sich mit einem Ach! oder Oh! die jedermann auslegen konnte, wie er wollte, und übrigens hütete sie sich gar sehr, über irgend ein neues Kunsterzeugniß ihre Meinung voreilig an den Tag zu legen, sondern wartete bescheiden, bis jemand aus der Gesellschaft, auf dessen Ansicht sie sich verlassen konnte, ihr zu einem sichern Urtheil verhalf.
Mit aller dieser Anstrengung war es ihr wirklich gelungen, ihren Zweck zu erreichen.
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