Das Haus der Gräfin Rosenberg galt allgemein für das angenehmste in der Stadt, dem alles zuströmte, was für geistreich und gebildet geachtet seyn wollte, oder auch es wirklich war. Es wimmelte bei ihr von fremden Künstlern, Gelehrten und schönen Geistern, und eine Addresse an die Gräfin schien den mehresten dieser Ankömmlinge nicht minder nothwendig als ein Reisepaß. Wer keine mitbrachte, den wußte sie auf andre Weise sich zuführen zu lassen, denn sie wäre untröstlich gewesen, wenn ein berühmter Mann das Weichbild der Stadt betreten hätte, ohne über ihre Schwelle zu gehen. Freilich schlich sich auch mancher bloß titulär-schöne Geist unter der Menge mit ein, denn an Auswahl war hier nicht zu denken; aber alle vereint brachten doch den Reiz einer mannigfaltigern Unterhaltung, eines geistigern Lebens in die Gesellschaft, als man in andern großen Zirkeln zu finden gewohnt ist, und selbst sehr ausgezeichnete Männer besuchten gern den Vereinigungs-Punkt, der ihnen hier geboten ward. Ueberdem verstand die Gräfin die Kunst, eine sehr angenehme Wirthin zu seyn. Mit anscheinender Sorglosigkeit überließ sie es jedem, nach Gefallen seine Unterhaltung zu wählen, und trachtete nur ganz unmerklich dahin, daß es nie an Stoff dazu mangle. Den feinen Takt echter Geselligkeit hatte lange Gewohnheit ihr zur zweiten Natur gemacht, und jedermann fühlte sich in ihrem Hause frei und behaglich.

Ernesto war der tägliche Gast desselben. Früher zog ihn heiterer Hang zu Geselligkeit dahin, später die Sorge um Gabrielen. Den Gedanken, auch auf Aurelien vortheilhaft zu wirken, den ihre Schönheit zuerst in ihm erregte, gab er auf, sobald er mit gewohntem Scharfblick sie und ihre Mutter durchschaute. Sein durchaus rechtliches Benehmen, sein heller Geist, seine Kenntnisse, vor allem die ihm eigne heitre Unterhaltungsgabe und sein fröhlicher, wenn auch zuweilen etwas kaustischer Witz erwarben ihm allgemeine Achtung und Liebe. Fast immer war er der von Allen gesuchte Mittelpunkt der Gesellschaft, um so mehr, da er bei seiner Genügsamkeit und strengen Mäßigkeit sich von jedermann unabhängig erhielt, und sich nie dahin bringen ließ, seiner Würde in etwas zu vergeben.

Die Gräfin fühlte den ganzen Werth seiner Gegenwart in ihrem Kreise, und strebte auf alle Weise, sich solche zu erhalten, obgleich ihr dabei zuweilen etwas unheimlich zu Muthe wurde. Ernesto war beinah der einzige Mensch, der ihr imponirte, sie fühlte sich gezwungen, ihn zu ehren und sich, sobald er es ernstlich wollte, seinem Willen in manchen Dingen zu fügen. Deshalb wagte sie es auch nicht, ihm zu widersprechen, als er sich ziemlich eigenmächtig gewissermaaßen zu Gabrielens Vormund aufwarf. Die Gräfin mußte es ihm sogar Dank wissen, daß er es unternahm, den mannigfaltigen Unterricht zu leiten, welchen Gabriele zufolge des Willens ihres Vaters in der Stadt erhalten sollte, denn er entledigte sie dadurch einer großen Last, die sie übereilt sich aufgeladen hatte, ohne die dabei vorwaltenden Schwierigkeiten und Mühn gehörig zu bedenken. Sie bat ihn, nur vor allem die ersten Wochen eifrigst zu benutzen, in denen Gabrielens tiefe Trauer, welche diese nicht vor der bestimmten Zeit ablegen wollte, deren eigentliche Einführung in die Welt noch verzögerte, und überließ alles übrige recht gern seinem bessern Wissen und Wollen.

 

 

Erwünschteres konnte für Gabrielen nichts geschehen, als daß sie Ernestos Führung übergeben ward, und von ihm geleitet begann ihr Leben bei der Tante sehr bald, sich beruhigend und erfreulich für sie zu ordnen. Bei der Gräfin und Aurelien brach der Tag wenigstens drei Stunden später an als bei ihr; Toilette und Visiten raubten diesen Damen alle übrige Zeit vor der Mittagstafel, es konnte ihnen daher nicht einfallen, Gabrielens Lehrstunden und Uebungen zu unterbrechen, und diese behielt also die vollkommenste Muße für sie und für Ernesto, der jeden Morgen mehrere Stunden mit Zeichnen und im Gespräch bei ihr verweilte.

Er sowohl, als die Lehrer, welche er für sie gewählt hatte, staunten nicht wenig bei der Entdeckung, welche Fortschritte Gabriele schon früher bei ihrer Mutter in alle dem gemacht hatte, was sie ihr von den ersten Anfangsgründen an lehren zu müssen geglaubt hatten, und mehrere von ihnen befanden sich wirklich mit dieser Schülerin in einiger Verlegenheit. Im gewöhnlichen Sinn des Wortes konnte Gabrielens Erziehung wirklich für mehr als vollendet gelten, aber die Gelegenheit zu fernern Fortschritten und Uebung im schon Erlernten war ihr zu willkommen, um sie nicht aufs beste zu benutzen. Uebrigens gewöhnte sie sich durch den Umgang mit ihren Lehrern immer mehr an den mit der Welt, und diese hingegen nahmen wieder recht gern den mühelos erworbenen Ruhm an, in unbegreiflich kurzer Zeit ihre Schülerin so weit gebracht zu haben.

Mit allen lebte Gabriele in der vollkommensten gegenseitigen Zufriedenheit, außer mit ihrem Singmeister, einem sehr vorzüglichen Künstler, der aber von der neuen italienischen Methode bezaubert war. Er bestand darauf, ihre ungewöhnlich reine biegsame Stimme an alle die immer wiederkehrenden Verzierungen und Manieren zu gewöhnen, mit welchen jetzt manche unsrer berühmtesten Sänger und Sängerinnen auf Kosten der Melodie und des Ausdrucks ihren Gesang oft so überladen, daß der ursprüngliche Gedanke des Komponisten eigentlich ganz dabei zu Grunde geht und nur noch das Tempo und die Worte eine große Arie von der andern unterscheiden. Gabriele hingegen war von ihrer Mutter nach der ältern reinern Methode unterrichtet, sie suchte nur, den echten Sinn des Gesanges einfach, wahr und gefühlvoll so wiederzugeben, als der Meister, der ihn niederschrieb, ihn sich dachte, und wollte sich auf keine Weise zu jenen künstlichen Schnörkeleien bequemen. Dies gab Anlaß zu unzähligen ziemlich lebhaften Zwistigkeiten zwischen ihr und ihrem Lehrer, bei welchen aber Gabriele nie von ihrer Ueberzeugung abweichen wollte. Glauben Sie, sprach sie zu ihm, daß Gluck oder Mozart diese krausen Läufer, diese Vorschläge und Triller nicht hätten vorschreiben können und es auch nicht gethan haben würden, wenn sie sie für zweckmäßig hielten? Niemanden fällt es je beim Vorlesen ein, sich an Göthen oder Schillern durch den eigenmächtigen Zusatz nur eines einzigen Wortes zu versündigen. Sollten die Meister der Tonkunst, die so klar ohne Worte zu uns zu sprechen wissen, daß wir sie deutlich verstehen, uns weniger heilig seyn? Vergebens bekämpfte der Musikmeister diese Meinung seiner Schülerin mit allen nur ersinnlichen Gegengründen, keiner derselben schien ihr bedeutend genug, um ihre eigne Ueberzeugung umzustoßen.

Ernesto war zufällig einmal Zeuge eines solchen Zwistes, und da der erzürnte Sänger ihn endlich zum Schiedsrichter aufrief, so erklärte dieser sich mit wenigen Einschränkungen für Gabrielen. Dies beendete wenigstens den Streit, aber der Lehrer seufzte doch jedesmal über den Eigensinn seiner sonst so gelehrigen Schülerin, wenn er gezwungen sich ihrem Willen fügen mußte.

Eigensinnig! So hatten auch die Tante und Aurelie sie mehreremale genannt, und dennoch war sie es nicht. Gabriele scheute nur das Unrecht, und war in ihrem Gemüthe bei aller ihrer Furchtsamkeit fest genug, um sich durch keine Ueberredung von dem abwenden zu lassen, was sie für das Rechte anerkannte, sobald sie aber ihren Irrthum einsah, war auch niemand bereitwilliger, ihn abzulegen, und Ernestos welterfahrnem, klarem Sinne gelang es immer, sie zum Beßern zu leiten.

Eines Morgens traf sie dieser in sehr lebhaftem Gespräch mit ihrer Kammerjungfer. Er fürchtete, in einer wichtigen Toilettenangelegenheit zu stören, und wollte eben bescheiden sich zurückziehn, als er zu seiner großen Verwunderung entdeckte, daß die Rede von nichts geringerem sey, als von Alexanders des Großen Zug nach Indien.

»Um Gotteswillen, was hat die kleine, hübsche Annette mit dem großen krummhälsigen Alexander zu thun?« fragte Ernesto, so wie er mit Gabrielen allein war. Lächelnd erzählte ihm diese, wie sie das Mädchen bei allen Stunden ihres eignen Unterrichts habe im Zimmer mit seiner Handarbeit bleiben heißen, und wie es anfangs aus Langerweile, endlich mit wirklicher Theilnahme, eifrig zugehört und vieles gelernt und behalten habe. In freien Stunden machte es sich Gabriele jetzt zum angenehmen Geschäft, die oberflächlichen Bruchstücke, welche Annette, oft nur halb gehört, auffaßte, in ihrem Köpfchen zu ordnen, und sie gründlicher zu unterrichten. Jugendliche Freude am Lehren des eben Erlernten mochten an diesem Unternehmen wohl vielen Theil haben, mehr aber noch der Wunsch, dem artigen Mädchen nützlich zu seyn, das mit großer Liebe an seiner jungen Gebieterin hing, und sich dabei als eine äußerst gelehrige Schülerin bewies.

»Sie glauben da etwas recht Vortreffliches zu stiften, liebe Gabriele,« sprach Ernesto zu seiner jungen Freundin, »ich aber fürchte, Sie bereiten dem armen Mädchen eine traurige Zukunft. Lassen Sie sich freundlich von mir warnen und an Annettens einstige Bestimmung errinnern.