›Gib ihn heraus!‹.. Sie schweigt...

Sie windet sich... Sahst du das Wappen nicht am Tor?

Wer hieß dich hier zu Gaste gehen, dummer Narr?

Hat er nur einen Tropfen Bluts, erwürgt er dich.«

Eintritt der Edelmann. »Du träumst! Zu Tische, Gast...«

 

Da sitzen sie. Die drei in ihrer schwarzen Tracht

Und er. Doch keins der Kinder spricht das Tischgebet.

Ihn starren sie mit aufgerißnen Augen an –

Den Becher füllt und übergießt er, stürzt den Trunk,

Springt auf: »Herr, gebet jetzt mir meine Lagerstatt!

Müd bin ich wie ein Hund!« Ein Diener leuchtet ihm,

Doch auf der Schwelle wirft er einen Blick zurück

Und sieht den Knaben flüstern in des Vaters Ohr...

Dem Diener folgt er taumelnd in das Turmgemach.

 

Fest riegelt er die Tür. Er prüft Pistol und Schwert.

Gell pfeift der Sturm. Die Diele bebt. Die Decke stöhnt.

Die Treppe kracht... Dröhnt hier ein Tritt?... Schleicht dort ein Schritt?...

Ihn täuscht das Ohr. Vorüberwandelt Mitternacht.

Auf seinen Lidern lastet Blei und schlummernd sinkt

Er auf das Lager. Draußen plätschert Regenflut.[215]

 

Er träumt. »Gesteh!« Sie schweigt. »Gib ihn heraus!« Sie schweigt.

Er zerrt das Weib. Zwei Füße zucken in der Glut.

Aufsprüht und zischt ein Feuermeer, das ihn verschlingt...

– »Erwach! Du solltest längst von hinnen sein! Es tagt!«

Durch die Tapetentür in das Gemach gelangt,

Vor seinem Lager steht des Schlosses Herr – ergraut,

Dem gestern dunkelbraun sich noch gekraust das Haar.

 

Sie reiten durch den Wald. Kein Lüftchen regt sich heut.

Zersplittert liegen Ästetrümmer quer im Pfad.

Die frühsten Vöglein zwitschern, halb im Traume noch.

Friedsel'ge Wolken schwimmen durch die klare Luft,

Als kehrten Engel heim von einer nächt'gen Wacht.

Die dunkeln Schollen atmen kräft'gen Erdgeruch.

Die Ebne öffnet sich. Im Felde geht ein Pflug.

Der Reiter lauert aus den Augenwinkeln: »Herr,

Ihr seid ein kluger Mann und voll Besonnenheit

Und wißt, daß ich dem größten König eigen bin.

Lebt wohl. Auf Nimmerwiedersehn!« Der andre spricht:

»Du sagst's! Dem größten König eigen! Heute ward

Sein Dienst mir schwer.. Gemordet hast du teuflisch mir

Mein Weib! Und lebst!... Mein ist die Rache, redet Gott.«[216]

 

Die Rose von Newport

Sprengende Reiter und flatternde Blüten,

Einer voraus mit gescheitelten Locken –

Ist es der Lenz auf geflügeltem Renner?

Karl ist's, der Jüngling, der Erbe von England,

Und die sich nähern in goldener Mailuft,

Das sind die Giebel und Tore von Newport,

Drüber das Wappen der Stadt: eine Rose!

Jubelnde Gassen und jubelnde Wimpel

Und ein von treibender Jugend geschwelltes,

Jubelndes Herz in dem Busen des Stuart...

Unter den blühenden Linden des Marktes

Schreitet ein Reigen von blühnden Gestalten

Und eine Schönste mit herzlichem Beben

Bietet dem Prinzen die Rose von Newport:

»Seliges Gestern und Morgen und Heute,

Herr, dir die Rose von Newport bedeute!«[216]

Morgen erzählen die Linden das Märchen

Von der entblätterten Rose von Newport.

 

Sprengende Reiter und wirbelnde Flocken,

Einer voraus mit verwilderten Haaren –

Ist es der Winter, der finstre Geselle?

Karl ist's, der Flüchtling, der König von England.

Seit er das Blut seines Volkes vergossen,

Reitet er neben zerschmetterndem Abgrund...

Und die sich nähern in weißem Gestöber,

Das sind die Giebel und Tore von Newport,

Drüber das Wappen der Stadt: eine Rose!

Nirgend ein Jubel und nirgend ein Wimpel,

Polternde Hämmer und kreischende Feilen,

Und ein von eisernen Fäusten gepreßtes,

Ächzendes Herz in dem Busen des Stuart...

Unter den frierenden Linden des Marktes

Bettelt ein Kind mit verschatteten Augen,

Bietet dem König ein dorrendes Röschen:

»Seliges Gestern und Morgen und Heute,

Herr, dir die Rose von Newport bedeute!«

Karl, der die Züge des Kindes betrachtet,

Schmal und gespenstig im Spiegel des Elends

Sieht er das eigene Antlitz und schaudert.

 

Morgen erzählen die Linden das Märchen

Von dem enthaupteten König in England.[217]

 

Der sterbende Cromwell

Vor der Königsburg in nächt'ger Stunde

Knickt der Tod die Eichen in die Runde,

Drinnen sucht er dann ein zäher Leben

Aus den Wurzeln allgemach zu heben –

Whitehall ist Cromwells Sterbestätte,

 

Ein Waldenser kniet an seinem Bette!

»Herr, ich komm, ein Kind des welschen Tales,

Wo du bist der Schutzgott jedes Mahles,

Unsern Dank auf deine Knie zu legen,

Leben, Cromwell, mußt du unsertwegen![217]

Rom befehdet uns mit seinen Pfaffen,

Unser Herzog rüstet frevle Waffen

Gegen unser Tal, den lautern Glauben

Will er oder uns das Leben rauben!

Doch du sahst in deinen Schmerzensnächten

Uns gefoltert schon von Henkersknechten

Und du hobest dich in Fieberschwüle,

Auf den Arm gestützt, empor vom Pfühle

Und du drohtest, über Meer gewendet –

Pfaffen, Henker blieben ungesendet.

Wenn wir, Cromwell, deine Söhne wären,

Herber könnten wir dich nicht entbehren!

Deine bangen Atemzüge geben

Uns den Odem, fristen uns das Leben.

Dennoch – wie du leidest, Herr – unsäglich –

Deine Qualen werden unerträglich?

Dennoch – ob uns Hartes sei beschieden –

Friedestifter, fahre hin in Frieden!«[218]

 

Miltons Rache

Am Grab der Republik ist er gestanden,

Doch sah er nicht des Stuart Schiffe landen,

Ihn hüllt' in Dunkel eine güt'ge Macht:

Er ist erblindet! Herrlich füllt mit lichten

Gebilden und dämonischen Gesichten

Die Muse seines Auges Nacht...

 

Ein eifrig Menschenantlitz neigt sich neben

Der müden Ampel, feine Finger schweben,

Auf leichte Blätter schreibt des Dichters Kind

Mit eines Stiftes ungehörtem Gleiten

Die Wucht der Worte, die für alle Zeiten

In Marmelstein gehauen sind...

 

Er spricht: »Zur Stunde, da« – Hohnrufe gellen,

Das Haupt, das blinde, bleiche, zuckt in grellen,

Lodernden Fackelgluten, zürnt und lauscht...

Durch Londons Gassen wandern um die Horden

Der Kavaliere, Schlaf und Scham zu morden,

Von Wein und Übermut berauscht:[218]

 

»Schaut auf! Das ist des Puritaners Erker!

Der Schreiber hält ein blühend Kind im Kerker!

Der Schuhu hütet einen duft'gen Kranz!

Wir schreiten schlank und jung, wir sind die Sünden

Und kommen ihr das Herzchen zu entzünden

Mit Saitenspiel und Reigentanz!

 

Vertreibt den Kauz vom Nest! Umarmt die Dirne!...«

Geklirr! Ein Stein!... Still blutet eine Stirne,

Den Vater schirmt das Mädchen mit dem Leib,

Die Bleiche drückt er auf den Schemel nieder,

Ein Richter, kehrt zu seinem Lied er wieder:

»Nimm deinen Stift, mein Kind, und schreib!

 

Zur Stunde, da des Lasterkönigs Knechte

Umwandern, die Entheiliger der Nächte...

Zur Stunde, da die Hölle frechen Schalls

Aufschreit, empor zu den erhabnen Türmen...

Zur Stunde, da die Riesenstadt durchstürmen

Die blut'gen Söhne Belials...«

 

So sang mit wunder Stirn der geisterblasse

Poet. Verschollen ist der Lärm der Gasse,

Doch ob Jahrhundert um Jahrhundert flieht,

Von einem bangen Mädchen aufgeschrieben,

Sind Miltons Rächerverse stehn geblieben,

Verwoben in sein ewig Lied.[219]

 

Der Daxelhofen

Den Hauptmann Daxelhofen

Bestaunten in der Stadt Paris

Die Kinder und die Zofen

Um seines blonden Bartes Vlies –

Prinz Condé zog zu Felde,

Der Hauptmann Daxelhofen auch,

Da fuhr am Bord der Schelde

Der Blitz und quoll der Pulverrauch.[219]

 

Die Lilienbanner hoben

Sich sachte weg aus Niederland

Und schoben sich und schoben

Tout doucement zum Rheinesstrand.

»Herr Prinz, welch köstlich Düften!

So duftet nur am Rhein der Wein!

Und dort der Turm in Lüften,

Herr Prinz, das ist doch Mainz am Rhein?

 

In meinem Pakt geschrieben

Steht: Ewig nimmer gegens Reich!

So steht's und ist geblieben

Und bleibt sich unverbrüchlich gleich!

Ich bin vom Schwabenstamme,

Bin auch ein Eidgenosse gut,

Und daß mich Gott verdamme,

Vergieß ich Deutscher deutsches Blut!

 

In Mainz als Feind zu rücken

Reißt mich kein Höllenteufel fort,

Betret ich dort die Brücken,

So sei mir Hand und Schlund verdorrt!

Nicht dürft ich mich bezechen

Mit frommen Christenleuten mehr!

Mein Waffen lieber brechen,

Als brechen Eid und Mannesehr!«

 

»La, la«, kirrt Condé, »ferner

Dient Ihr um Doppel-Tripellohn.«

Da bricht vorm Knie der Berner

In Stücke krachend sein Sponton,

Dem Prinzen wirft zu Füßen

Die beiden Trümmer er und spricht:

»Den König laß ich grüßen,

Das deutsche Reich befehd ich nicht!«[220]

 

Ein Pilgrim

(Epilog)

 

's ist im Sabinerland ein Kirchentor –

Mir war ein Reisejugendtag erfüllt –

Ich saß auf einer Bank von Stein davor,

In einen langen Mantel eingehüllt,

Aus dem Gebirge blies ein harscher Wind –

Vorüber schritt ein Weib mit einem Kind,

Das, zu der Mutter flüsternd, scheu begann:

»Da sitzt ein Pilgerim und Wandersmann!«

 

Mir blieb das Wort des Kindes eingeprägt,

Und wo ich neues Land und Meer erschaut,

Den Wanderstecken neben mich gelegt,

Wo das Geheimnis einer Ferne blaut,

Ergriff mich unersättlich Lebenslust

Und füllte mir die Augen und die Brust,

Hell in die Lüfte jubelnd rief ich dann:

»Ich bin ein Pilgerim und Wandersmann!«

 

Es war am Comer- oder Langensee,

Auf lichter Tiefe trug das Boot mich hin

Entgegen meinem ew'gen, stillen Schnee

Mit einer andern lieben Pilgerin –

Rasch zog mir meine Schwester aus dem Haar,

Dem braungelockten, eins, das silbern war,

Und es betrachtend, seufzt ich leis und sann:

»Du bist ein Pilgerim und Wandersmann.«

 

Mit Weib und Kind an meinem eignen Herd

In einer häuslich trauten Flamme Schein

Dünkt keine Ferne mir begehrenswert,

So ist es gut! So sollt es ewig sein...

Jetzt fällt das Wort mir plötzlich in den Sinn

Der kleinen furchtsamen Sabinerin,

Das Wort, das nimmer ich vergessen kann:

»Da sitzt ein Pilgerim und Wandersmann«

 

Biographie

1825

11. Oktober: Conrad Meyer wird in Zürich als erstes Kind des Juristen und Historikers Ferdinand Meyer und seiner Frau Elisabeth, geb. Ulrich, geboren. Er wird streng protestantisch erzogen.

1829

Der Vater wird in den Großen Rat des Kantons Zürich gewählt.

1830

Ferdinand Meyer steigt zum Regierungsrat auf.

1831

Freundschaft mit Johanna Spyri.

1832

Ferdinand Meyers scheidet aus der Regierung aus.

1833

Der Vater wird Lehrer am Gymnasium in Zürich, das Conrad Ferdinand Meyer besuchen wird.

1840

Tod des Vaters.

1843

Meyer reist nach Lausanne, wo er dort Privatstunden in Französisch und Italienisch nimmt.

Beginn der autodidaktischen historischen und literaturwissenschaftlichen Studien.

Bekanntschaft mit dem Maler Paul Deschwanden und dem Historiker Louis Vuillemin.

1844

Rückkehr nach Zürich, wo er die Reifeprüfung ablegt.

Meyer immatrikuliert sich der Mutter zuliebe an der Züricher Universität zum Jurastudium, das er jedoch bald wieder aufgibt.

1845

Umzug mit der Mutter und der Schwester nach Stadelhofen.

Liebe zu Marie Burckhardt.

1848

Meyer bemüht sich um eine künstlerische Ausbildung, jedoch ohne Erfolg.

Autodidaktische Studien.

Der Rückzug aus sozialen Kontakten führt zur Isolation Meyers.

1852

Sommer: Meyer wird mit Depressionen in die Nervenheilanstalt Préfargier bei Neuenburg eingeliefert.

1853

Freundschaft mit der Oberschwester Cécile Borrel.

Nach seiner Entlassung aus der Nervenklinik geht Meyer nach Neuenburg.

März: Umsiedlung nach Lausanne, wo er u.a. als Geschichtslehrer im Blindeninstitut arbeitet (bis Dezember).

Enger Kontakt zu Louis Vuillemin, der ihn zur Übersetzung von Constantin Thierrys »Récits des Temps Mérovingiens« anregt, an der er bis 1855 arbeitet.

Dezember: Meyer kehrt zurück nach Zürich.

1855

Auf die Fürsprache Louis Vuillemins hin ernennt der Züricher Präsident der »Allgemeinen geschichtsforschenden Gesellschaft der Schweiz«, der Historiker Georg von Wyss, Meyer zum Sekretär der Gesellschaft.

Die Thierry-Übersetzung »Erzählungen über die Geschichte Frankreichs« erscheint (ohne Nennung des Übesetzers).

1856

Tod Antonin Mallets, eines geistig zurückgebliebenen begüterten Genfers, der von der Familie Meyer betreut worden war. Er vermacht sein Vermögen der Familie. Durch diese Erbschaft ist Meyers finanzielle Unabhängigkeit gesichert.

September: Freitod der Mutter.

1857

März bis Juni: Reise nach Paris.

Sommer: Zusammen mit Betsy Aufenthalt in Engelberg und Planung einer Italienreise.

Oktober: Besuch in München.

1858

März bis Juni: Mit Betsy Reise nach Italien, wo sie Siena, Florenz und vor allem Rom besuchen.

1859

Nach der Rückkehr arbeitet Meyer als Übersetzer in Zürich.

1860

Übersiedlung nach Lausanne, wo er sich an der Universität habilitieren möchte.

1861

Rückkehr nach Zürich.

1864

»Zwanzig Balladen von einem Schweizer« erscheinen anonym und auf Meyers eigene Kosten gedruckt.

1865

Veröffentlichung von Gedichten im »Stuttgarter Morgenblatt«.

»Der Himmlische Vater, sieben Reden von Ernest Naville«, von Meyer zusammen mit der Schwester Betsy übersetzt, erscheint.

Meyer lernt den Leipziger Verleger Hermann Haessel kennen, der alle weiteren Schriften Meyers veröffentlicht und ihn als Autor in Deutschland durchsetzt.

1866

Sommer: Aufenthalt mit Betsy im Oberengadin und im Veltlin.

Arbeit an »Georg Jenatsch«.

1867

Die »Balladen von Conrad Ferdinand Meyer«, eine unveränderte Ausgabe der Balladen von 1864 mit neuem Titel, erscheinen.

Um Verwechslungen mit einem gleichnamigen Züricher Schriftsteller zu vermeiden, nimmt er den Namen des Vaters als zweiten Vornamen an und nennt sich nun Conrad Ferdinand Meyer.

Sommeraufenthalt und Wanderungen mit Betsy im Oberengadin.

1868

Frühjahr: Umzug mit der Schwester nach Seehof bei Küsnacht.

1869

»Romanzen und Bilder« (Gedichte, vordatiert auf 1870).

1870

Freundschaft mit Georg von Wyss, dem Kunsthistoriker Johann Rudolf Rahn und dem Rhetoriker Adolf Calmberg sowie mit François und Eliza Wille, in deren Haus Züricher Künstler und Gelehrte verkehren.

1871

Die historische Verserzählung »Huttens letzte Tage«, eine Reverenz an die Lebensleistung eines patriotisch gesinnten Deutschen, erscheint (vordatiert auf 1872).

Winter: Reise nach München, Innsbruck, Verona und Venedig.

1872

März: Übersiedlung in den Seehof in Meilen.

»Engelberg« (Epos).

1873

»Das Amulett« (Novelle).

1874

In der Zeitschrift »Die Literatur. Wochenschrift für das nationale Geistesleben der Gegenwart« erscheint Meyers auf historischen Quellen beruhender Roman »Georg Jenatsch.