Dann aber – ganz gegen seine Gewohnheit – stellte sich eine gewisse Eßlust bei ihm ein. Er tunkte seine gerösteten Brotschnitten, die mit einer ganz besondern Butter bestrichen waren, in eine Tasse Tee, eine treffliche Mischung von Si-a-Fayoune, Mo-you-tann und Khansky, gelben Teesorten, die von China nach Rußland durch besondre Karawanen geschickt werden, wodurch sie den famosen Kamelduft angenommen haben.

Der Herzog trank diese duftige Flüssigkeit aus dem feinsten chinesischen Porzellan, das man wegen seiner Durchsichtigkeit als Eierschalen bezeichnet. Zu diesen entzückenden Tassen benutzte er nur Bestecke aus altem vergoldeten Silber, das die Vergoldung schon etwas verloren hatte, so daß das Silber unter dem Gold ein wenig zum Vorschein kam und ihm so die Färbung vormaliger Zartheit ganz diskret wiedergab.

Nachdem er einen letzten Schluck genommen hatte, ging er in sein Arbeitszimmer zurück und ließ sich durch den Diener die Schildkröte bringen, die in ihrer hartnäckigen Unbeweglichkeit verharrte.

Der Schnee fiel in dichten Flocken. Bei dem Licht der Lampen bildeten sich Eisblumen hinter den bläulichen Scheiben, und der Reif, der in den Flaschenböden der mit Gold besprenkelten Fenster glänzte, glich geschmolzenem Zucker.

Ein tiefes Schweigen hüllte das Häuschen wie in Finsternis erstarrt ein.

Herzog Jean träumte; die brennenden Holzscheite im Kamin erfüllten mit ihrer wärmenden Ausströmung das Gemach; er öffnete halb das Fenster.

Wie ein hoher Vorhang verkehrten Hermelins hob sich der Himmel vor ihm schwarz mit weißen Tüpfchen ab. Ein eiskalter Wind wehte, der den Schneeflug beschleunigte. Der heraldische Vorhang des Himmels kehrte sich bald um und wurde ein wirklich weißer Hermelin, nun wieder schwarz getupft.

Er schloß das Fenster wieder. Der schroffe Wechsel von großer Hitze und der Kälte des Winters hatte ihn gepackt; er zog sich ans Feuer zurück. Es kam ihm der Gedanke, ein geistiges Getränk zu genießen, das ihn wieder erwärmen sollte.

Er ging ins Eßzimmer, wo ein Wandschrank in der Mauer angebracht war, in dem sich eine Reihe kleiner Tonnen dicht nebeneinander auf kleinen Blöcken von Sandelholz befanden, die alle mit kleinen silbernen Hähnchen am untern Ende versehn waren.

Er nannte diese Sammlung von Likören seine Mundorgel.

Eine Röhre konnte alle Hähne vereinigen. Wenn das Instrument richtig gestellt war, brauchte er nur auf den Knopf, der in dem Holzwerk verborgen war, zu drücken, um alle Hähne auf einmal aufzudrehn, worauf sich die winzigen Becher, die unter ihnen standen, mit Likör füllten.

Diese Orgel, auf die bezeichneten Stimmen Flöte, Waldhorn, Vox Divina u.s.w. gestellt, war stets zu seiner Benutzung bereit. Herzog Jean trank von diesem und jenem Likör einige Tropfen, spielte sich innre Symphonien vor, und es gelang ihm, seinem Gaumen ähnliche Genüsse zu verschaffen, wie sie die Musik dem Ohre bereitet. Außerdem stimmte jeder Likör seiner Ansicht nach mit dem Ton eines Instruments überein.

Der trockne Curaçao zum Beispiel mit der Klarinette, deren Töne spitz und weich sind; der Kornbranntwein mit der Hoboe, deren Klang näselt; der Pfefferminz und Anisette mit der Flöte, süß und scharf, schrill und sanft zugleich; das Kirschwasser mit der Trompete; Gin und Whisky erschreckten den Gaumen durch ihren schrillen Schall, wie Klapphorn und Posaune das Ohr heftig mitnehmen, während der Weinträberschnaps gleichsam den betäubenden Lärm der Tuba verursacht, und der russische Raky und der Mastic der Mundhaut die Schläge der Zimbel und der Pauke mitteilen.

Er meinte auch, daß diese Vergleiche sich auf Quartett-Saiteninstrumente übertragen lassen, indem unter dem Gaumengewölbe die Geige den alten Kognak vorstellt, berauschend und zart, scharf und spröde, während die Bratsche kräftiger, voller, dumpfer aus dem Rum zu hören ist; der Magenbitter zerreißend, melancholisch und schmeichelnd wie ein Violoncell erklingt, die Baßgeige dagegen schwer, stark und düster wie ein scharfer alter Bitter wirkt. Man könnte selbst – indem man ein Quintett bildet – die Harfe hinzufügen, die mit einer gleichen Wahrscheinlichkeit die mächtige Kraft und ihre silbernen Klänge, frei und zart wie der Kümmel wiedergäbe.

Diese Voraussetzungen hatte er einmal angenommen und war soweit gekommen, infolge rastloser Versuche auf seiner Zunge stille Melodien zu spielen, stumme Trauermärsche mit großem Gepränge aufzuführen, Soli von Pfefferminz, Duette zwischen Bittern und Rum zu hören.

Es gelang ihm so, in seine Kinnbacken wirkliche Musikstücke den Wünschen des Komponisten gemäß zu übertragen, er gab Takt für Takt die Gedanken, die Wirkungen, die Nuancen wieder und erzeugte durch nahe Verbindungen oder Kontraste der Liköre, durch geschickte Mischungen Akkorde.

Früher komponierte er seine Melodien selbst und führte seine Idyllen mit dem gutmütigen Johannisbeerlikör auf, der ihm den perlenden Gesang der Nachtigall in der Kehle trillern machte, oder er sang mit dem sanften Kakao-Chouva die süßlichen Schäferlieder, wie: die Romanzen von Estella und die »Ach! ich sag Ihnen, Mama« aus der alten Zeit.

Aber heute abend hatte der Herzog durchaus keine Lust, der Musik zu frönen; er begnügte sich damit, einen einzigen Ton auf der Klaviatur seiner Orgel anzuschlagen; er nahm seinen kleinen Becher, den er zuvor einfach mit echtem irländischen Whisky gefüllt hatte, machte es sich in seinem Sessel bequem und schlürfte ganz langsam den aus Hafer und Gerste gegorenen Saft, der seinen Mund mit einem starken Kreosotgeruch erfüllte.

Nach und nach beim Trinken folgten seine Gedanken wieder dem belebten Eindruck seines Gaumens; er erweckte so durch eine fatale Ähnlichkeit von Gerüchen eine seit Jahren verwischte Erinnerung.

Dieser scharfe Karbolduft erinnerte ihn an den gleichen Geruch, der zu einer Zeit, da die Zahnärzte an seinem Zahnfleisch herumarbeiteten, seinen Mund erfüllt hatte.

Einmal auf diesen Weg gebracht, erging er sich zuerst in Träumereien über all die Praktikusse, die er kennen gelernt hatte, er sammelte sich und konzentrierte seine Erinnerung auf einen, dessen seltsame Erscheinung ihm besonders im Gedächtnis verblieben war.

Es war vor drei Jahren, als er mitten in der Nacht von einem rasenden Zahnschmerz befallen wurde; er wickelte sich den Kopf ein, stieß in der Verzweiflung gegen alle Möbel und rannte wie ein Wahnsinniger im Zimmer umher.

Es war ein schon plombierter Backenzahn. Eine Heilung war nicht mehr möglich; die Zange des Zahnarztes allein konnte dem Übel abhelfen.

Fieberhaft erwartete er den Tag, entschlossen, die schrecklichsten Operationen zu erdulden, wenn sie nur seinem Leiden ein Ende machten.

Er hielt sich fortwährend den Mund zu und fragte sich, was er tun solle. Die Zahnärzte, die ihn gewöhnlich behandelten, waren reiche Leute, die man nicht so nach seinem Gefallen sprechen konnte; da mußten erst mit ihnen die Besuche und die Stunden der Konsultationen genau verabredet werden. Das war jedoch unmöglich. »Ich kann es nicht länger hinausschieben,« sagte er sich; und er entschloß sich, zu dem ersten besten zu gehn, zu einem Zahnausreißer gewöhnlichen Schlages; einem der Leute mit der eisernen Faust, die mit einer Geschwindigkeit ohnegleichen die hartnäckigsten Zahnstümpfe zu entfernen wissen. Sie sind vom frühen Morgen an zu sprechen, und bei ihnen braucht man nicht zu warten.

Endlich schlug es sieben Uhr. Er lief aus dem Hause, erinnerte sich des Namens eines bekannten Technikers, der sich »Volkszahnarzt« nannte und an der Ecke eines Quais wohnte. Er durchrannte die Straßen und biß voll Verzweiflung in sein Taschentuch, um die Tränen zurückzuhalten.

Er war eben vor dem Haus angelangt, das man schon von weitem an dem großen schwarzen Holzschilde erkennen konnte, auf dem mit riesig großen Buchstaben der Name »Gatonax« gemalt war; in zwei kleinen Glaskästen sah man Zähne in Zahnfleisch aus rosa Wachs sorgfältig aufgereiht und durch eine mechanische Feder aus Draht miteinander verbunden. Er keuchte, der Schweiß trat ihm auf die Stirn, und eine wahnsinnige Angst befiel ihn, ein Schauer durchrieselte seine Haut, worauf sich urplötzlich eine Linderung fühlbar machte: er litt nicht mehr, der Zahn tat nicht mehr weh.

Wie verdummt blieb er auf dem Trottoir stehn; schließlich aber stemmte er sich gegen die Angst und kletterte eine dunkle Treppe bis zum dritten Stock hinauf. Da stand er vor einer Tür; ein Porzellanschild mit himmelblauen Buchstaben: es war derselbe Name wie unten an der Tür.

Er zog die Klingel; doch entsetzt durch die Blutauswürfe, die er auf den Treppenstufen bemerkte, wollte er jetzt umkehren, entschlossen, sein ganzes Leben lang den Zahnschmerz zu erdulden, als ein Schrei das Treppenhaus erfüllte, der den Entsetzten auf seinen Platz bannte. Im selben Augenblick öffnete sich die Tür, und eine alte Frau bat ihn einzutreten.

Die Scham überwand die Furcht. Man führte ihn in das Eßzimmer, eine andre Tür ward zugeschlagen, und ein großer vierschrötiger Mann im schwarzen Gehrock und schwarzen Beinkleidern trat ein und forderte ihn auf, ihm in ein andres Zimmer zu folgen.

Seine Empfindungen wurden von diesem Augenblick ab undeutlich. Er erinnerte sich, sich auf einen Sessel neben dem Fenster niedergesetzt und etwas gestammelt zu haben, während er den Finger auf seinen Zahn legte: »Schon mal plombiert ... fürchte, es ist nichts zu machen ...«

Der Mann hob schnell die Auseinandersetzung auf, indem er dem Herzog seinen enormen Zeigefinger in den Mund schob und dann etwas in seinen gewichsten und spitz gedrehten Schnurrbart brummte. Er nahm ein Instrument vom Tisch, womit er die große Szene begann.

Herzog Jean hatte sich krampfhaft an die Lehne des Sessels geklammert und gefühlt, wie etwas Kaltes seine Backe berührte; hierauf hatte er vor den Augen nur Funken gesehn; er wurde von entsetzlichsten Schmerzen erfaßt, und so brüllte er, mit den Füßen strampelnd, wie ein wildes Tier.

Man hörte ein Knacken, der Backenzahn war beim Herausziehen abgebrochen; ihm war, als ob man ihm den Kopf abgerissen oder den Schädel eingeschlagen hätte. Er hatte aus Leibeskräften geheult und sich wütend gegen den Mann gewehrt, der sich von neuem auf ihn stürzte, als ob er ihm mit seinem Arm in den Leib dringen wolle.

Der Arzt war nach der zweiten Operation einen Schritt zurückgetreten, hatte den Herzog wieder in den Sitz zurückfallen lassen, worauf er an das Fenster ging, schwer Atem holte und am Ende seiner Zange einen blauen Zahnstumpf hielt, an dem etwas Rotes hing.

Wie vernichtet hatte Herzog Jean eine ganze Schale voll Blut ausgebrochen, mit einer heftigen Bewegung die Annahme des Zahnstumpfes verweigert, den ihm die alte Frau, in ein Stück Zeitungspapier gewickelt, darreichte, und war davongestürzt, nachdem er zwei Franken gezahlt hatte.

Auf der Straße war er ganz heiter, wie um zehn Jahre jünger und interessierte sich für alles und jedes. – – –

»Brr!« murmelte er jetzt, ganz erschreckt von dem Gang, den seine Gedanken genommen hatten.

Er stand auf, um diese Vision zu zerstören, und um in die Wirklichkeit zurückzukehren, fing er an, sich wieder mit der Schildkröte zu beschäftigen.

Sie rührte sich noch immer nicht, er befühlte sie, sie war tot. Sie war an eine ruhige Existenz, an ein demütiges Leben, das sie unter ihrer ärmlichen Schale zubrachte, gewöhnt; sie hatte den glänzenden Luxus, den man ihr aufdrang, den goldglänzenden Überzug, mit dem man sie bekleidet hatte, die Edelsteine, mit denen man ihr den Rücken gepflastert hatte, nicht vertragen können.

 

Fünftes Kapitel.

 

Zur selben Zeit, da sich sein Wunsch verschärfte, sich einem hassenswerten Zeitalter von unwürdigen Stockfischen zu entziehn, machte sich das Bedürfnis immer gewaltsamer geltend, keine Bilder mehr zu sehn, die das menschliche Antlitz darstellten, Bilder solcher Personen, die in Paris nur zwischen ihren vier Wänden herumkrauchen oder auf den Straßen auf der Suche nach Geld lungern.

Nachdem er sich mit dem Leben und Treiben seiner Zeit abgefunden hatte, hatte er sich vorgenommen, keine Larven, die ihm nur Widerwillen oder Bedauern einflößten, in seine Zelle einzuführen; er wünschte Gemälde, die zarte und köstliche Phantasien alter Zeit und klassischer Verderbtheit vorstellten, die unsern Tagen und Sitten fern liegen.

Er brauchte zum Ergötzen seines Geistes wie zur Freude seiner Augen einige Gemälde, die ihn in eine unbekannte Welt einführen, ihm die Spuren neuer Ideen enthüllen und sein Nervensystem durch hysterische Sensationen erschüttern sollten.

Da gab es einen Künstler vor allen, der ihn zu großer Begeisterung hinriß: Gustav Moreau.

Zwei seiner Meisterwerke befanden sich in seinem Besitz; und während der Nacht saß er oft träumend vor dem einen, dem Gemälde der Salome:

Ein Thron, dem Hochaltar einer Kathedrale gleich, stand unter gewaltigen Wölbungen, die aus niedrigen Säulen emporwachsen, ähnlich römischen Pfeilern, glasiert mit bunten Ziegeln, in Mosaik gefaßt und mit Lasursteinen und Sardonyxen eingelegt: ein Palast, einer Basilika ähnlich, in mohammedanisch-byzantinischer Architektur aufgeführt.

In der Mitte des Tabernakels, das den Altar überragte, zu dem einige Stufen in halbrunder Form hinaufführten, saß der Tetrarch Herodes, auf dem Kopfe die Tiara, die Beine emporgezogen und die Hände auf den Knien.

Sein Gesicht war gelb wie Pergament, alterzerstört und voller Falten; sein langer Bart wallte wie eine weiße Wolke über das Edelgestein, mit dem sein aus Goldstoff gefertigtes und die Brust bedeckendes Gewand besät war.

Um diese unbewegliche Statue, die in der eigentümlichen Stellung des Hindu-Gottes wie erstarrt dasaß, brannten Spezereien, die leichte Rauchwolken verbreiteten und den Glanz der Edelsteine, die in den Thronhimmel eingefügt waren, weckten.