Das »Carmen apologeticum«, im Jahre 259 geschrieben, ist eine Sammlung von Sprüchen in den beliebten Hexametern, die hier manchmal gereimt sind und schon an das Kirchenlatein spätrer Zeiten erinnern.
Seine überspannt dunklen Verse, voll von Ausdrücken der Tagessprache, von Wörtern ursprünglich verdrehter Bedeutung, fesselten ihn mehr als der reife gesättigte Stil der Geschichtschreiber: Ammianus Marcellinus und Aurelian Victor, der berühmte Briefschreiber Symmachus und der Kompilator und Grammatiker Macrobius; er zog sie sogar den wirklich skandierten Versen jener buntscheckig herrlichen Sprache vor, wie sie Claudius, Rutilius und Ausonius sprachen.
Waren die doch damals die Meister der Kunst. Sie erfüllten das untergehende Reich mit ihren Warnungen, der christliche Ausonius mit seinem Cento nuptialis und seiner üppigen Dichtung von der Mosella; Rutilius mit seinen Hymnen zum Ruhme Roms, seiner Verfluchung der Juden und Mönche, der Reisebeschreibung von Italien nach Gallien, in der es ihm gelingt, bestimmte Eindrücke des Geschehnen gut wiederzugeben: Landschaften, die sich zitternd im Wasser spiegeln, aufsteigende Nebel, schwere Wolken, die um die Berge brauen.
Endlich im fünften Jahrhundert Augustin, Bischof von Hippo. Diesen kannte Herzog Jean nur zu gut, denn er ist ja der angesehnste Schriftsteller der Kirche, der Gründer der christlichen Orthodoxie, der den Katholiken als ein Orakel gilt, und vor dem sie sich alle beugen. Diesen öffnete er nicht mehr, obgleich Augustin in seinen »Bekenntnissen« den Widerwillen gegen das Irdische ebenfalls besungen und in seiner »Gottesstadt« versucht hatte, das entsetzliche Elend des Jahrhunderts durch Vertröstung auf eine beßre Zukunft zu besänftigen.
Die zweite Hälfte des fünften Jahrhunderts war gekommen, die entsetzliche Zeit, in der die gewaltigsten Stöße die Erde erschütterten.
Die Barbaren verwüsteten Gallien; Rom, der Plünderung der Westgoten preisgegeben, fühlte sein Leben erstarren, sah seine äußersten Grenzen, den Okzident und den Orient, sich im Blute wälzend von Tag zu Tag mehr erschöpfen und dem Untergange verfallen.
In dieser allgemeinen Auflösung, diesem Meuchelmorde der Cäsaren, die rasch aufeinander folgten, in diesem Lärm bluttriefenden Gemetzels, das sich von einem Ende Europas zum andern wälzte, ertönte ein fürchterliches Hurrageschrei, das allen Unwillen und alles Geheul zum Schweigen brachte.
An dem Ufer der Donau erschienen Tausende von Männern auf kleinen Pferden, eingehüllt in weite Oberkleider von Rattenfell, scheußliche Tataren mit enormen Köpfen, platter Nase, das Kinn durch Schmarren und Narben entstellt, bartlose, zitronengelbe Gesichter stürzten sich vorwärts im gestreckten Galopp, alle Reiche gleichsam in einen Wirbelwind einhüllend und niederreißend.
Alles verschwand in den Staubwolken dieser wilden Reiter wie in Rauch von Feuerbrünsten. Die Finsternis verbreitete sich, und die bestürzten Völker erzitterten, wenn sie diesen entsetzlichen Staubwirbel mit dem Getöse des Donners vorübersausen hörten. Die Hunnenherde machte Ost-Europa dem Erdboden gleich, stürzte sich auf Gallien, wo sie in den Ebenen von Châlons durch den römischen General Aetius niedergeworfen und im Sturm vernichtet wurde. Die mit Blut überschwemmten Wiesen kräuselten sich wie ein Purpurmeer; zweihunderttausend Leichen versperrten den Weg und brachen den Anlauf dieser aus der Richtung gekommenen Lawine, die wie mit Donnerschlägen in Italien einfiel, wo die zerstörten Städte gleich Heuschobern brannten.
Das weströmische Reich brach unter dem Stoß zusammen; sein mit dem Tode ringendes Dasein, das es stumpfsinnig im Kot hingeschleppt hatte, erlosch; es schien überdies das Ende der Welt nahe; die Städte, die von Attila vergessen worden waren, wurden durch Hungersnot und Pest dahingerafft, das Latein schien unter den Ruinen der Welt mit zu versinken.
Jahre vergingen; die barbarischen Idiome fingen an, sich zu regeln und wirkliche Sprachen zu bilden. Das Latein, das während der allgemeinen Zerrüttung in die Klöster geflüchtet war, verblieb dort, wie in den Pfarrhäusern; hier und da erstanden einige Poeten, frostig und träge: der Afrikaner Dracontius mit seinem »Hexameron«; Claudius Mamertius mit seinen liturgischen Poesien; Avitus von Wien. Dann die Biographen, wie Ennodius, der die Wunder des heiligen Epiphanias erzählt, jenes scharfsichtigen, verehrten Diplomaten, des biedern und umsichtigen Seelsorgers; wie Eugippius, der uns das unvergleichliche Leben des heiligen Severinus wieder vor Augen führt, diesen geheimnisvollen Einsiedlers und demütigen Asketen, der den trostlosen, vor Furcht und Schmerz wahnsinnigen Völkern wie ein Engel der Barmherzigkeit erschien; Schriftsteller wie Veranius du Gévaudan, der eine kleine Abhandlung über die Enthaltsamkeit verfaßte; wie Aurelian und Ferreolus, die die kirchlichen Satzungen zusammengestellt haben; Geschichtschreiber wie Rotherius, berühmt durch ein Geschichtswerk, das aber verloren gegangen ist.
Die Werke der nachfolgenden Jahrhunderte wurden in der Bibliothek des Herzogs Jean spärlicher. Indessen war das sechste Jahrhundert noch durch Fortunatus, Bischof von Poitiers, durch Boëthius, den alten Gregor von Tours, und Jornandes vertreten.
Wenig entzückt von der Schwerfälligkeit der karolingischen Lateiner, wie Eginhart und Alcuin, begnügte er sich als Sprachprobe des neunten Jahrhunderts mit den Chroniken des Anonymus von St. Gallen, des Frechulf und des Regino, mit dem Gedichte von der Belagerung von Paris, verfaßt von Abbo le Courbé, mit dem »Hortulus«, mit der Dichtung von Ermold le Noir, der die Taten Ludwigs des Frommen preist, und einigen nicht zu klassifizierenden moderneren Werken ohne Jahreszahl, Werken der Geheimlehre, der Arzneikunde, der Pflanzenkunde, einzelnen Bänden der Kirchenväterkunde von Migne, die nirgends mehr zu findende christliche Poesien enthielten, und mit der Blumenlehre der kleinen lateinischen Poeten von Wernsdorff.
Mit dem Anfang des zehnten Jahrhunderts hörte seine lateinische Bibliothek auf.
Die alten Ausgaben, die Herzog Jean sorgfältig gesammelt hatte, waren hiermit erschöpft, und mit einem jähen Sprung über Jahrhunderte hinweg leiteten seine Bücher direkt zu der französischen Sprache des jetzigen Jahrhunderts über.
Viertes Kapitel.
Eines Nachmittags hielt ein Wagen vor dem Hause in Fontenay. Da Herzog Jean keine Besuche empfing und sich selbst der Briefträger nicht einmal in dieser unbewohnten Gegend zeigte, weil er niemals einen Brief oder eine Zeitung zu bestellen hatte, zögerten anfänglich die beiden alten Dienstboten, da sie nicht wußten, ob sie öffnen durften. Auf das laute Geklingel der Glocke, die mit aller Kraft gezogen wurde, wagten sie es endlich, durch das kleine Schiebfenster, das in der Tür angebracht war, zu sehn; vor der Türe stand ein Herr, dessen ganze Brust vom Hals bis zum Leib mit einem ungeheuern goldnen Schild bedeckt war.
Sie benachrichtigen hierauf ihren Herrn, der am Frühstückstisch saß.
»Ganz richtig, führen Sie ihn herein,« sagte er – denn er erinnerte sich, daß er vor einiger Zeit einem Edelsteinhändler, der eine schwierige Bestellung für ihn ausführen sollte, seine Adresse gegeben hatte.
Der Herr grüßte und setzte ohne Umstände auf den Boden des Eßzimmers seinen Schild nieder, der sich bewegte, sich dann ein wenig erhob, unter dem der kleine schlangenartige Kopf einer Schildkröte hervorlugte, um sich plötzlich wieder erschrocken unter die Schale zurückzuziehn.
Diese Schildkröte war eine phantastische Idee des Herzogs Jean, die ihm einige Zeit vor dem Verlassen von Paris gekommen war.
Eines Tags, da er einen orientalischen Teppich besah und die Reflexe bewunderte, die je nach dem Silberglanz, der über das Gewebe lief, bald aladingelb, bald pflaumenblau leuchteten, sagte er sich, daß es sich nicht übel ausnehmen müsse, etwas Bewegliches auf den Teppich zu setzen, um den Farbenreiz durch einen dunkeln Ton zu erhöhn.
Von dieser Idee ganz eingenommen, war er aufs Geratewohl durch die Straßen geschlendert und bis zum Palais-Royal gekommen. Als er hier im Schaufenster bei Chevet eine Schildkröte in einem Bassin bemerkte, schlug er sich vor die Stirn, wie jemand, dem plötzlich ein Gedanke gekommen ist.
Er kaufte das Tier, setzte es dann auf den Teppich und sich davor. Lange hatte er das Tier mit halbgeschloßnen Augen aufmerksam betrachtet.
Das harte Braun des Rückenschilds verdunkelte die Reflexe des Teppichs, ohne sie zu beleben; der vorherrschende Silberglanz strahlte jetzt kaum und streifte mit seinem kalten zinkfarbnen Ton den Rand dieser harten glanzlosen Schale.
Er biß sich auf den Finger und suchte ein Mittel, diese Mißverbindung zu versöhnen und die offenbare Scheidung der Töne zu verhindern, wobei er schließlich entdeckte, daß seine erste Idee, die darin bestand, die Flammen des Gewebes mit einem darauf gesetzten beweglichen dunkeln Gegenstand zu schüren, falsch war. Im Grunde genommen war dieser Teppich noch zu auffällig, zu lebhaft und zu neu. Die Farben waren noch nicht genügend abgestumpft und gedämpft; es handelte sich darum, den Satz umzukehren, die Töne abzuschwächen, sie durch den Kontrast eines glänzenden Gegenstandes zu erlöschen, alles um sich zu erdrücken und goldiges Licht auf das mattsilberne zu werfen.
In dieser Weise dargestellt, war die Frage leichter zu entscheiden. Er beschloß infolgedessen, den Panzer der Schildkröte mit einer Goldglasur überziehn zu lassen.
Als das Tier von dem Praktikus, der es in Arbeit gehabt hatte, wieder zurückgekommen war, leuchtete es wie die Sonne.
Anfänglich war Herzog Jean ganz entzückt von der Wirkung; dann kam ihm der Gedanke, daß dieses riesengroße Schmuckstück bis jetzt nur flüchtig entworfen und daß es erst vollendet wäre, wenn es mit eingelegten seltnen und kostbaren Steinen besetzt wäre.
Er wählte aus einer japanischen Sammlung eine Zeichnung, die ein Arrangement von Blumen vorstellte, die von einem dünnen Stengel wie Raketen ausgingen. Er brachte das Muster zu einem Goldschmied, zeichnete eine Einfassung darum, die das Bukett in einen ovalen Rahmen einschloß, und erklärte dem verdutzten Juwelenhändler, daß die Blätter und die Kelche jeder der Blumen in Edelsteinen ausgeführt und in das Schild des Tieres selbst eingelassen werden sollten.
Die Wahl der Edelsteine war nicht leicht: der Diamant ist zu gewöhnlich geworden, seit die Kaufleute ihn am kleinen Finger tragen; die Smaragde und die Rubinen des Orients sind weniger entwürdigt, aber sie erinnern zu sehr an die grünen und roten Omnibus-Laternen. Was die Topase anbelangt, geglüht oder roh, sind sie nur wohlfeile Steine, der kleinen Bürgersfrau überaus wert, die ihre Schmucksachen noch mit Wohlgefallen in ihren Leinenschrank verschließt; anderseits hat der Amethyst, obgleich ihm die Kirche den priesterlich-ernsten Charakter bewahrt, in den roten Ohren und an den feisten Händen der Schlächterfrauen, die sich für einen bescheidnen Preis gern mit schwerfälligem Schmuck behängen, an Wert sehr verloren. Dem Saphir allein ist sein unverletztes Feuer nicht durch spekulative Ausnutzung genommen. Seine Strahlen rieseln wie klares kaltes Wasser und haben sozusagen seinen zurückhaltenden und hochmütigen Adel gegen jeden Schmutz bewahrt. Unglücklicherweise funkeln seine frischen Farben nicht bei Licht; das blaue Wasser geht in sich selbst zurück, scheint einzuschlafen, um erst wieder beim Anblick des Tages aufzuwachen und zu blitzen.
Schließlich befriedigte nicht einer von diesen Steinen den Herzog Jean; außerdem waren sie zu zivilisiert und zu bekannt. Er ließ wunderlichere und seltsamere Steine durch seine Finger gleiten, und zuletzt suchte er eine Serie von wirklichen und künstlichen Steinen aus, deren Mischung eine bezaubernde und überraschende Harmonie hervorbringen sollte.
Er setzte in folgender Weise das Bukett seiner Blumen zusammen: die Blätter wurden von klarem bestimmten Grün gefaßt mit dem Chrysoberill, einem spargelgrünen Edelstein; grünem Chrysolith; dunkelgrünem Olivin. Diese hoben sich von den Zweigen aus Almadin und Ouwarovit ab, einem blauroten Stein, der in kaltem Glanze flimmert, wie etwa das Glimmen des Weinsteins im Innern der Fässer ist.
Für die Blumen, die strahlenförmig vom Stengel ausgehn, benutzte er bläuliche Aschfarbe; aber er vermied streng den orientalischen Türkis, den man für Busennadeln und Ringe verwendet und der mit der alltäglichen Perle und der abscheulichen Koralle das Entzücken des Kleinbürgertums ist. Dagegen wählte er schließlich die Türkise des Abendlandes, Steine, die im eigentlichen Sinne des Wortes nur fossiles Elfenbein sind, von einer kupferfarbigen Substanz durchdrungen, wie von schmachtendem Blau erfüllt, undurchsichtig, schwefelhaltig und wie mit Galle gefärbt.
Als dies geschehn war, machte er sich daran, die Kelche seiner aufgeblühten Blumen mitten im Strauße einzufassen und für die Blumen, die dem Stengel am nächsten standen, durchsichtige Steine mit gläsern-krankhaftem Glanz, mit fieberhaft scharfem Strahl zu wählen.
Er setzte sie einzig und allein aus indischen Katzenaugen, Cymophanen und saphirartigen Steinen zusammen.
Von diesen drei Steinen ging in der Tat ein geheimnisvoll-wunderlicher Schimmer aus, der schmerzlich aus dem kalten Grunde trüben Wassers herausgerissen schien: das Katzenauge von einem grünlichen Grau, von schwachen Adern durchzogen, die sich zu bewegen schienen und jeden Augenblick den Platz wechselten, je nach dem darauf fallenden Licht; der Cymophan mit dem moirierten Azurblau, das über die milchweiße Farbe hinläuft, die im Innern lebt; der Saphirin, der auf dunkelbraun-schokoladefarbigem Grund phosphorbläuliche Feuer entzündet.
Der Juwelenhändler machte sich Notizen über die Stellen, in die die Steine eingesetzt werden sollten.
»Und die Einfassung der Schale der Schildkröte?« fragte er schließlich.
Herzog Jean hatte zuerst an einige Opale und Hydrophane – eine Art Opal, der Wasser einsaugt und dadurch durchsichtiger und farbenspielender wird, – gedacht; aber die Verwendbarkeit dieser interessanten Steine ist wegen der Unbestimmtheit ihrer Farben und des Zweifelhaften ihres Feuers zu schwierig. Der Opal hat eine geradezu rheumatische Empfindlichkeit. Das Spiel seiner Strahlen verändert sich je nach der Feuchtigkeit, der Wärme oder Kälte; und was den Hydrophan anbelangt, blitzt er nur im Wasser und scheint seine Glut zu entzünden, wenn man ihn anfeuchtet.
Zuletzt entschloß er sich zu den Steinen, deren Reflexe abwechseln: zu dem Hiazinth von Compostella, einem rötlich-gelben Edelstein; Aquamarin, meergrün; Ballas-Rubin, blaßrot; Südermannlands-Rubin, rotgelb. Ihr schwaches Schimmern genügte, um die dunkeln Schatten des Rückenschilds zu erhellen und das Blühn der Edelsteine nicht zu beeinträchtigen, die sie mit einer schmalen Girlande von unbestimmter Leuchtkraft umgaben. –
Und nun setzte sich Herzog Jean in eine Ecke seines Eßzimmers und betrachtete mit Wohlgefallen die im Schatten goldglänzende Schildkröte.
Er fühlte sich vollkommen glücklich; seine Blicke berauschten sich an dem hellen Glanz der Blumenkronen auf goldnem Grund.
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