Geschichte der Abderiten

Wieland, Christoph Martin

Geschichte der Abderiten

 

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Christoph Martin Wieland

Geschichte der Abderiten

 

 

Erster Teil,

der das erste, zweite und dritte

Buch enthält

 

Vorbericht

 

Diejenigen, denen etwan daran gelegen sein möchte, sich der Wahrheit der bei dieser Geschichte zum Grunde liegenden Tatsachen und charakteristischen Züge zu vergewissern, können wofern sie nicht Lust haben, solche in den Quellen selbst, nämlich in den Werken eines Herodots, Diogenes Laertius, Athenäus, Aelians, Plutarchs, Lucians, Paläphatus, Cicero, Horaz, Petrons, Juvenals, Valerius, Gellius, Solinus, u.a. aufzusuchen – sich aus den Artikeln Abdera und Demokritus in dem Baylischen Wörterbuche überzeugen, daß diese Abderiten nicht unter die wahren Geschichten im Geschmacke der lucianischen gehören. Sowohl die Abderiten, als ihr gelehrter Mitbürger Demokritus, erscheinen hier in ihrem wahren Lichte; und wiewohl der Verfasser, bei Ausfüllung der Lücken, Aufklärung der dunkeln Stellen, Hebung der wirklichen und Vereinigung der scheinbaren Widersprüche, die man in den vorbemeldten Schriftstellern findet, nach unbekannten Nachrichten gearbeitet zu haben scheint: so werden doch scharfsinnige Leser gewahr werden, daß er in allem diesem einem Gewährsmanne gefolget ist, dessen Ansehen alle Aeliane und Athenäen zu Boden wiegt, und gegen dessen einzelne Stimme das Zeugnis einer ganzen Welt, und die Entscheidung aller Amphictyonen, Areopagiten, Decemvirn, Centumvirn und Ducentumvirn, auch Doctoren, Magistern und Baccalauren, samt und sonders ohne Wirkung ist, nämlich der Natur selbst.

Sollte man dieses kleine Werk als einen, wiewohl geringen, Beitrag zur Geschichte des menschlichen Verstandes ansehen wollen: so läßt sichs der Verfasser sehr wohl gefallen; glaubt aber, daß es auch unter diesem so vornehm klingenden Titel weder mehr noch weniger sei, als was alle Geschichtbücher sein müssen, wenn sie nicht sogar unter die schöne Melusine herabsinken, und mit dem schalsten aller Märchen, der Dame D'Aunoy in Eine Rubrik geworfen werden wollen.

 

Erstes Buch oder

Demokritus unter den Abderiten

 

Erstes Kapitel

Vorläufige Nachrichten vom Ursprung der Stadt Abdera und dem Charakter ihrer Einwohner

Das Altertum der Stadt Abdera in Thracien, verliert sich in der fabelhaften Heldenzeit. Auch kann es uns sehr gleichgültig sein, ob sie ihren Namen von Abdera, einer Schwester des berüchtigten Diomedes, Königs der bistonischen Thracier1, – der ein so großer Liebhaber von Pferden war und deren so viel hielt, daß er und sein Land endlich von seinen Pferden aufgefressen wurde2, – oder von Abderus, einem Stallmeister dieses Königs, oder von einem andern Abderus, der ein Liebling des Herkules gewesen sein soll, empfangen habe.

Abdera war, einige Jahrhundert nach ihrer ersten Gründung, vor Alter wieder zusammengefallen: als Timesius von Klazomene, um die Zeit der ein und dreißigsten Olympiade, unternahm, sie wieder aufzubauen. Die wilden Thracier, welche keine Städte in ihrer Nachbarschaft aufkommen lassen wollten, ließen ihm nicht Zeit, die Früchte seiner Arbeit zu genießen3. Sie trieben ihn wieder fort, und Abdera blieb unbewohnt und unvollendet, bis, ungefähr um das Ende der Olympiade 59, die Einwohner der ionischen Stadt Teos – weil sie keine Lust hatten, sich dem Eroberer Cyrus zu unterwerfen – zu Schiffe gingen, nach Thracien segelten, und, da sie in einer der fruchtbarsten Gegenden desselben dieses Abdera schon gebauet fanden, sich dessen als einer verlassenen und niemanden zugehörigen Sache bemächtigten, auch sich darinnen gegen die thracischen Barbaren so gut behaupteten, daß sie und ihre Nachkommen von nun an Abderiten hießen, und einen kleinen Freistaat ausmachten, der (wie die meisten griechischen Städte) ein zweideutig Mittelding von Demokratie und Aristokratie war, und regieret wurde, – wie kleine Republiken von je her regieret worden sind.

»Wozu (rufen unsre Leser) diese nichtsbedeutende Deduction des Ursprungs und der Schicksale des Städtchens Abdera in Thracien? Was kümmert uns Abdera? Was liegt uns daran, zu wissen, oder nicht zu wissen, wann, wie, wo, warum, von wem, und zu was Ende eine Stadt, welche längst nicht mehr in der Welt ist, erbaut worden sein mag?«

Geduld! günstige Leser! Geduld, bis wir, eh ich weiter fort erzähle, über unsre Bedingungen einig sind. Verhüte der Himmel, daß man euch zumuten sollte, die Abderiten zu lesen, wenn ihr gerade was nötigeres zu tun, oder was besseres zu lesen habt! –

»Ich muß auf eine Predigt studieren. – Ich habe Kranke zu besuchen. – Ich hab' ein Gutachten, einen Bescheid, eine Leuterung, einen untertänigsten Bericht zu machen. – Ich muß recensieren. – Mir fehlen noch sechzehn Bogen an den vier Alphabeten, die ich meinem Verleger binnen acht Tagen liefern muß. – Ich hab' ein Joch Ochsen gekauft. – Ich hab' ein Weib genommen. –« In Gottes Namen! Studiert, besucht, referiert, recensiert, übersetzt, kauft und freiet! – Beschäftigte Leser sind selten gute Leser. Bald gefällt ihnen alles, bald nichts; bald verstehn sie uns halb, bald gar nicht, bald (was das schlimmste ist) unrecht. Wer mit Vergnügen, mit Nutzen lesen will, muß gerade sonst nichts anders zu tun noch zu denken haben. Und wenn ihr euch in diesem Falle befindet: warum solltet ihr nicht zwo oder drei Minuten daran wenden wollen, etwas zu wissen, was einem Salmasius, einem Barnes, einem Bayle, – und, um aufrichtig zu sein, mir selbst (weil mir nicht zu rechter Zeit einfiel, den Artikel Abdera im Bayle nachzuschlagen,) eben so viele Stunden gekostet hat? Würdet ihr mir doch geduldig zugehöret haben, wenn ich euch die Historie vom König in Böhmenland der sieben Schlösser hatte, oder die Geschichte der drei Calender zu erzählen, angefangen hätte.

Die Abderiten also, hätten (dem zufolge, was bereits von ihnen gemeldet worden ist,) ein so feines, lebhaftes, witziges und kluges Völkchen sein sollen, als jemals eines unter der Sonne gelebt hat. –

»Und warum dies?«

Diese Frage wird uns vermutlich nicht von den Gelehrten unter unsern Lesern gemacht. Aber, wer wollte auch Bücher schreiben, wenn alle Leser so gelehrt wären, als der Autor? Die Frage warum dies ist allemal eine sehr vernünftige Frage. Sie verdient, wo die Rede von menschlichen Dingen ist, allemal eine Antwort; und wehe dem, der verlegen, oder beschämt, oder ungehalten wird, wenn er sich auf warum dies vernehmen lassen soll. Wir unsers Orts würden die Antwort ungefodert gegeben haben, wenn die Leser nicht so hastig gewesen wären. Hier ist sie!

Teos war eine atheniensische Colonie, von den zwölfen oder dreizehn eine, welche unter Anführung des Neleus, Kodrus Sohns, in Ionien gepflanzt wurden.

Die Athenienser waren von je her ein muntres und geistreiches Volk, und sind es noch, wie man sagt. Athenienser, nach Ionien versetzt, gewannen unter dem schönen Himmel, der dieses von der Natur verzärtelte Land umfließt, wie Burgunderreben durch Verpflanzung aufs Vorgebirge. Vor allen andern Völkern des Erdbodens waren die ionischen Griechen die Günstlinge der Musen. Homerus selbst war, der größten Wahrscheinlichkeit nach, ein Ionier. Die erotischen Gesänge, die milesischen Fabeln (die Vorbilder unsrer Novellen und Romanen,) erkennen Ionien für ihr Vaterland. Der Horaz der Griechen Alcäus, die glühende Sappho, Anakreon, der Sänger – Aspasia, die Lehrerin – Apelles, der Maler – der Grazien, waren aus Ionien; Anakreon war sogar ein geborner Tejer. Dieser letzte mochte etwa ein Jüngling von achtzehn Jahren sein, (wenn anders Barnes recht gerechnet hat,) als seine Mitbürger nach Abdera zogen. Er zog mit ihnen; und zum Beweise, daß er seine den Liebesgöttern geweihte Leier nicht zurückgelassen, sang er dort das Lied an ein thracisches Mädchen, (in Barnesens Ausgabe das ein und sechzigste,) worin ein gewisser wilder thracischer Ton mit der ionischen Grazie, die seinen Liedern eigen ist, auf eine ganz besondere Art absticht.

Wer sollte nun nicht denken, die Tejer – in ihrem ersten Ursprung Athenienser – so lange Zeit in Ionien einheimisch – Mitbürger eines Anakreons – sollten auch in Thracien den Charakter eines geistreichen Volkes behauptet haben? Allein (was auch die Ursache davon gewesen sein mag,) das Gegenteil ist außer Zweifel. Kaum wurden die Tejer zu Abderiten, so schlugen sie aus der Art.