Plato verweiset alle sanften und weichlichen Tonarten aus seiner Republik; die Musik soll seinen Bürgern weder Freude noch Traurigkeit einflößen; er verbannet mit den ionischen und lydischen Harmonien10 alle Trink- und Liebeslieder; ja die Instrumente selbst scheinen ihm so wenig gleichgültig, daß er vielmehr die vielsaitigen, und die lydische Flöte, als gefährliche Werkzeuge der Üppigkeit ausmustert, und seinen Bürgern nur die Leier und die Cithar, so wie den Hirten und dem Landvolke nur die Rohrpfeife gestattet. So strenge philosophierten die Abderiten nicht. Keine Tonart, kein Instrument war bei ihnen ausgeschlossen, und – einem sehr wahren, aber sehr oft von ihnen mißverstandnen Grundsatze zufolge – behaupteten sie: daß man alle ernsthaften Dinge lustig, und alle lustigen ernsthaft behandeln müsse. Die Ausdehnung dieser Maxime auf die Musik brachte bei ihnen die widersinnigsten Wirkungen hervor. Ihre gottesdienstlichen Gesänge klangen wie Gassenlieder; allein dafür konnte man nichts feierlichers hören, als die Melodie ihrer Tänze. Die Musik zu einem Trauerspiel war gemeiniglich komisch; hingegen klangen ihre Kriegslieder so schwermütig, daß sie sich nur für Leute schickten, die an den Galgen gehen. Diese Widersinnigkeit erstreckte sich über alle Gegenstände des Geschmacks. Ein Leierspieler wurde in Abdera nur dann für vortrefflich gehalten, wenn er die Saiten so zu rühren wußte, daß man eine Flöte zu hören glaubte; und eine Sängerin, um bewundert zu werden, mußte gurgeln und trillern wie eine Nachtigall. Die Abderiten hatten keinen Begriff davon, daß die Musik nur in so fern Musik ist, als sie das Herz rührt: sie waren wohl zufrieden, wenn nur ihre Ohren gekützelt, oder wenigstens mit nichtssagenden, aber vollen und oft abwechselnden Harmonien gestopft wurden. Mit einem Worte, bei aller ihrer Schwärmerei für die Künste hatten die Abderiten keinen Geschmack; und es ahnete ihnen gar nicht, daß das Schöne aus einem höhern Grunde schön sei, als weil es ihnen so beliebte.

Dieses alles ungeachtet, konnte Natur, Zufall und gutes Glück mit zusammengesetzten Kräften wohl einmal so viel zuwege bringen, daß ein geborner Abderite Menschenverstand bekam. Aber wenigstens muß man gestehen, wenn sich so etwas begab, so hatte Abdera nichts dabei geholfen. Denn ein Abderit war ordentlicher Weise nur in so fern klug, als er kein Abderit war; – ein Umstand, der uns ohne Mühe begreifen läßt, warum die Abderiten von demjenigen unter ihren Mitbürgern, der ihnen in den Augen der Welt am meisten Ehre machte, immer am wenigsten hielten. Dies war keine ihrer gewöhnlichen Widersinnigkeiten. Sie hatten eine Ursache dazu, die so natürlich ist, daß es unbillig wäre, sie ihnen zum Vorwurf zu machen.

Diese Ursache war nicht (wie einige sich einbilden), weil sie z.E. den Naturforscher Demokritus – lange zuvor, eh er ein großer Mann war – mit dem Kreisel spielen, oder auf einem Grasplatze Burzelbäume machen gesehen hatten. –

Auch nicht: weil sie aus Neid oder Eifersucht nicht leiden konnten, daß einer aus ihrem Mittel klüger sein sollte als sie. Denn – bei der untrüglichen Aufschrift der Pforte des delphischen Tempels! – dies zu denken hatte kein einziger Abderit Weisheit genug, oder er würde von dem Augenblick an kein Abderit mehr gewesen sein.

Der wahre Grund, meine Freunde, warum die Abderiten aus ihrem Mitbürger Demokritus nicht viel machten, war dieser: weil sie ihn für – keinen weisen Mann hielten.

»Warum das nicht?«

Weil sie nicht konnten.

»Und warum konnten sie nicht?«

Weil sie sich alsdann selbst für Dummköpfe hätten halten müssen. Und dies zu tun waren sie gleichwohl nicht widersinnisch genug.

Auch hätten sie eben so leicht auf dem Kopfe tanzen, oder den Mond mit den Zähnen fassen, oder den Zirkel quadrieren können, als einen Menschen, der in Allem ihr Gegenfüßler war, für einen weisen Mann zu halten. Dies folgt aus einer Eigenschaft der menschlichen Natur, die schon zu Adams Zeiten bemerkt worden sein muß, und gleichwohl, da Helvetius daraus folgerte – was daraus folgt, vielen ganz neu vorkam; die seit dieser Zeit niemanden mehr neu ist, und dennoch im Leben alle Augenblicke Vergessen wird.

 

Drittes Kapitel

 

Was Demokritus für ein Mann war
Seine Reisen
Er kommt nach Abdera zurück
Was er mitbringt, und wie er aufgenommen wird
Ein Examen, das sie mit ihm vornehmen, welches zugleich eine Probe einer abderitischen Conversation ist

Demokritus – ich denke nicht, daß es Sie gereuen wird, den Mann näher kennen zu lernen –

Demokritus war ungefähr zwanzig Jahre alt, als er seinen Vater, einen der reichsten Bürger von Abdera, erbte. Anstatt nun darauf zu denken, wie er seinen Reichtum erhalten oder vermehren, oder auf die angenehmste oder lächerlichste Art durchbringen wollte, entschloß sich der junge Mensch, solchen zum Mittel – der Vervollkommnung seiner Seele zu machen.

»Aber was sagten die Abderiten zum Entschlusse des jungen Demokritus?«

Die guten Leute hatten sich nie träumen lassen, daß die Seele ein anderes Interesse habe, als der Magen, der Bauch und die übrigen integranten Teile des sichtbaren Menschen. Also mag ihnen freilich diese Grille ihres Landsmannes wunderlich genug vorgekommen sein. Allein, dies war nun gerade was er sich am wenigsten anfechten ließ. Er ging seinen Weg fort, und brachte viele Jahre mit gelehrten Reisen durch alle festen Länder und Inseln zu, die man damals bereisen konnte. Denn wer zu seiner Zeit weise werden wollte, mußte mit eignen Augen sehen. Es gab noch keine Buchdruckereien, keine Journale, Bibliotheken, Magazine, Encyklopädien, Realwörterbücher, und wie alle die Werkzeuge heißen, mit deren Hülfe man itzt, ohne zu wissen wie, ein Philosoph, ein Kunstrichter, ein Autor, ein Alleswisser wird. Damals war die Weisheit so teuer, und noch teurer als – die schöne Lais. Nicht jedermann konnte nach Korinth reisen. Die Anzahl der Weisen war sehr klein; aber die es waren, waren es auch desto mehr.

Demokritus reisete nicht bloß um der Menschen Sitten und Verfassungen zu beschauen, wie Ulysses; nicht bloß um Priester und Geisterseher aufzusuchen, wie Plato; oder um Tempel, Statuen, Gemälde und Altertümer zu begucken, wie Pausanias; oder um Pflanzen und Tiere abzuzeichnen und unter Classen zu bringen, wie Doctor Solander: sondern er reisete, um Natur und Kunst in allen ihren Wirkungen und Ursachen, den Menschen in seiner Nacktheit und in allen seinen Einkleidungen und Verkleidungen, roh und bearbeitet, bemalt und unbemalt, ganz und verstümmelt, und die übrigen Dinge in allen ihren Beziehungen auf den Menschen, kennen zu lernen. Die Raupen in Aethiopien (sagte Demokritus,) sind freilich nur – Raupen. Was ist eine Raupe, um das erste, angelegenste, einzige Studium eines Menschen zu sein, Aber, da wir nun einmal in Aethiopien sind, so sehen wir uns immer, nebenher, auch nach den äthiopischen Raupen um.