Wer geboren werden soll, muß irgendwo geboren werden; das übrige nimmt die Natur auf sich; und ich zweifle sehr, ob, außer dem Lykurgus, ein Gesetzgeber gewesen, der seine Fürsorge bis auf den Homunculus ausgedehnt, und alle mögliche Vorkehrungen getroffen hätte, damit dem Staat wohl organisierte, schöne, und seelenvolle Kinder geliefert würden. Wir müssen gestehen, in dieser Rücksicht hatte Sparta einiges Recht, sich mit den Vorzügen seiner Bürger Ehre zu machen. Aber in Abdera (wie beinahe in der ganzen Welt) ließ man den Zufall und den Genius walten,

 

– natale comes qui temperat astrum,

 

und wenn ein Protagoras8 oder Demokritus aus ihrem Mittel entsprang, so war die gute Stadt Abdera gewiß eben so unschuldig daran, als Lykurgus und seine Gesetze, wenn in Sparta ein Dummkopf oder eine Memme geboren wurde.

Diese Nachlässigkeit, wiewohl sie eine dem Staat äußerst angelegene Sache betrifft, möchte noch immer hingehen. Die Natur, wenn man sie nur ungestört arbeiten läßt, macht meistens alle weitere Fürsorge für das Geraten ihrer Werke überflüssig. Aber wiewohl sie selten vergißt, ihr Lieblingswerk mit allen den Fähigkeiten auszurüsten, aus welchen ein vollkommner Mensch gebildet werden könnte: so ist doch eben diese Ausbildung das, was sie der Kunst überläßt; und es bleibt also jedem Staate noch Gelegenheit genug übrig, sich ein Recht an die Vorzüge und Verdienste seiner Mitbürger zu erwerben. Allein auch hierin ließen die Abderiten sehr viel an ihrer Klugheit zu vermissen übrig; und man hätte schwerlich einen Ort finden können, wo für die Bildung des innern Gefühls, des Verstandes und des Herzens der künftigen Bürger weniger gesorgt worden wäre.

Die Bildung des Geschmacks, d.i. eines feinen, richtigen und gelehrten Gefühls alles Schönen, ist die beste Grundlage zu jener berühmten sokratischen Kalokagathie oder innerlichen Schönheit und Güte der Seele, welche den liebenswürdigen, edelmütigen, wohltätigen und glücklichen Menschen macht. Und nichts ist geschickter, dieses richtige Gefühl des Schönen in uns zu bilden als – wenn alles, was wir von der Kindheit an sehen und hören, schön ist. In einer Stadt, wo die Künste der Musen in der größten Vollkommenheit getrieben werden, in einer schön gebauten und mit Meisterstücken der bildenden Künste angefüllten Stadt, in einem Athen, geboren zu sein, ist daher allerdings kein geringer Vorteil; und wenn die Athenienser zu Platons und Menanders Zeiten mehr Geschmack hatten als tausend andere Völker, so hatten sie es unstreitig ihrem Vaterlande zu danken.

Abdera führte in einem griechischen Sprüchworte (über dessen Verstand die Gelehrten, nach ihrer Gewohnheit, nicht einig sind,) den Beinamen, womit Florenz unter den italiänischen Städten prangt – die Schöne. Wir haben schon bemerkt, daß die Abderiten Enthusiasten der schönen Künste waren; und in der Tat, zur Zeit ihres größten Flors, das ist, eben damals, da sie auf einige Zeit den Fröschen Platz machen mußten, war ihre Stadt voll prächtiger Gebäude, reich an Malereien und Bildsäulen, mit einem schönen Theater und Musiksaal (Odeion) versehen, kurz, ein kleines Athen – bloß den Geschmack ausgenommen. Denn zum Unglück erstreckte sich die wunderliche Laune, von welcher wir oben gesprochen haben, auch auf ihre Begriffe vom Schönen und Anständigen. Latona, die Schutzgöttin ihrer Stadt, hatte den schlechtesten Tempel; Jason, der Anführer der Argonauten, hingegen (dessen goldenes Vließ sie zu besitzen vorgaben,) den prächtigsten. Ihr Rathaus sah wie ein Magazin aus, und unmittelbar vor dem Saale, wo die Angelegenheiten des Staats erwogen wurden, hatten alle Kräuter-, Obst- und Eierweiber von Abdera ihre Niederlage. Hingegen ruhte das Gymnasium, worin sich ihre Jugend im Ringen und Fechten übte, auf einer dreifachen Säulenreihe. Der Fechtsaal war mit lauter Schildereien von Beratschlagungen und mit Statuen in ruhigen oder tiefsinnigen Stellungen ausgeziert9. Dafür aber stellte das Rathaus den Vätern des Vaterlandes eine desto reizendre Augenweide dar. Denn wohin sie in dem Saal ihrer gewöhnlichen Sitzungen die Augen warfen, glänzten ihnen schöne nackende Kämpfer, oder badende Dianen und schlafende Bacchanten entgegen; und Venus mit ihrem Buhler, im Netze Vulcans allen Einwohnern des Olympus zur Schau ausgestellt, (ein großes Stück, welches dem Sitz des Archons gegenüber hing,)wurde den Fremden mit einem Triumphe gezeigt, der den ernsten Phocion selbst genötiget hätte, zum erstenmal in seinem Leben zu lachen. Der König Lysimachus (sagten sie,) habe ihnen sechs Städte und ein Gebiet von vielen Meilen dafür angeboten; aber sie hätten sich nicht entschließen können, ein so herrliches Stück hinzugeben, zumal da es – gerade die Höhe und Breite habe, um eine ganze Seite der Ratsstube eizunehmen; und über dies habe einer ihrer Kunstrichter in einem weitläuftigen, mit großer Gelehrsamkeit angefüllten Werke die Beziehung des allegorischen Sinnes dieser Schilderei auf den Platz, wo sie stehe, sehr scharfsinnig dargetan.

Wir würden nicht fertig werden, wenn wir alle Unschicklichkeiten, wovon diese wundervolle Republik wimmelte, berühren wollten. Aber noch eine können wir nicht vorbeigehen, weil sie einen wesentlichen Zug ihrer Verfassung betrifft, und keinen geringen Einfluß auf den Charakter der Abderiten hatte. In den ältesten Zeiten der Stadt war, vermutlich einem orphischen Institut zufolge, der Nomophylax, oder Beschirmer der Gesetze, (eine der obersten Magistratspersonen,) zugleich Vorsänger bei den gottesdienstlichen Chören, und Oberaufseher über das Musikwesen. Dies hatte damals seinen guten Grund. Allein mit der Länge der Zeit ändern sich die Gründe der Gesetze; diese werden alsdann durch buchstäbliche Erfüllung lächerlich, und müssen also nach den veränderten Umständen umgegossen werden. Aber eine solche Betrachtung kam nicht in abderitische Köpfe. Es hatte sich öfters zugetragen, daß ein Nomophylax erwählt wurde, der zwar die Gesetze ganz leidlich beschirmte, aber entweder schlecht sang, oder gar nichts von der Musik verstund. Was hatten die Abderiten zu tun? Nach häufigen Beratschlagungen machten sie endlich die Verordnung: Der beste Sänger aus Abdera sollte hinfür allezeit auch Nomophylax sein; und dabei blieb es, so lang Abdera stund. Daß der Nomophylax und der Vorsänger zwo verschiedene Personen sein könnten, war in zwanzig öffentlichen Beratschlagungen keiner Seele eingefallen.

Es ist leicht zu erachten, daß die Musik, bei so bewandten Sachen, zu Abdera in großer Achtung stehen mußte. Alles in dieser Stadt war musikalisch; alles sang, flötete und leierte. Ihre Sittenlehre und Politik, ihre Theologie und Kosmologie, war auf musikalische Grundsätze gebaut; ja, ihre Ärzte heilten sogar die Krankheiten durch Tonarten und Melodien. So weit scheint ihnen, was die Speculation betrifft, das Ansehen der größten Weisen des Altertums, eines Orpheus, Pythagoras und Plato, zu statten zu kommen. Aber in der Ausübung entfernten sie sich desto weiter von der Strenge dieser Philosophen.