Ich mache nur einen Unterschied zwischen einem mechanischen Instinct, der nicht gänzlich von mir abhängt, und dem Willen meiner Seele. Ich habe den Willen nicht gehabt, dessen du mich beschuldigest. »Ich beschuldige dich nichts, als daß du meiner spottest. Ich denke, daß ich die Natur kennen sollte. Die Schwärmerei kann in deinen Jahren keine so unheilbare Krankheit sein, daß sie wider die Reizung des Vergnügens sollte aushalten können.« Deswegen vermeide ich die Gelegenheiten. »Du gestehest also, daß Cyane reizend ist.« Sehr reizend. »Und daß ihr Genuß ein Vergnügen wäre?« Vermutlich. »Warum quälest du dich dann, dir ein Vergnügen zu versagen, das in deiner Gewalt ist.« Weil ich mich dadurch vieler andern Vergnügen berauben würde, die ich höher schätze. »Kann man in deinem Alter so sehr ein Neuling sein? Was für Vergnügen, die allen übrigen Menschen unbekannt sind, hat die Natur für dich allein aufbehalten? Wenn du noch größere kennest als dieses, – doch ich merke dich. Du wirst mir wieder von den Vergnügungen der Geister, von Nectar und Ambrosia sprechen; aber wir spielen izt keine Comödie, mein Freund. Die Erscheinung einer Cyane in einem von den Gebüschen meiner Gärten würde fähig sein, so gar deinen Geistern Körper zu geben.« Hippias, ich rede wie ich denke. Ich kenne Vergnügen, die ich höher schätze als diejenigen, die der Mensch mit den Tieren gemein hat. »Zum Exempel?« Das Vergnügen eine gute Handlung zu tun. »Was nennest du eine gute Handlung?« Eine Handlung, wodurch ich, mit einiger Anstrengung meiner Kräfte, oder Aufopferung eines Vorteils oder Vergnügens, andrer Bestes befördere. »Du bist also töricht genug zu glauben, daß du andern mehr schuldig seiest, als dir selbst?« Das nicht; sondern ich finde für gut, ein geringeres Vergnügen dem größern aufzuopfern, welches ich alsdann genieße, wenn ich das Glück meiner Nebengeschöpfe befördern kann. »Du bist sehr dienstfertig; gesetzt aber es sei so, wie hängt dieses mit demjenigen zusammen, wovon izt die Rede ist?« Das ist leicht zu sehen. Gesetzt, ich überließe mich den Eindrücken, welche die Reizungen der schönen Cyane auf mich machen könnten; gesetzt, sie liebte mich, und ließe mich alles erfahren, was die Wollust berauschendes hat; eine Verbindung von dieser Art könnte von keiner langen Dauer sein; aber würden die Erinnerungen der genoßnen Freuden nicht die Begierde erwecken, sie wieder zu genießen? »Eine neue Cyane« – würde mir wieder gleichgültig werden, und eben diese Begierden zurück lassen. »Eine immerwährende Abwechslung ist also hierin, wie du siehst, das Gesetz der Natur.« Aber auf diese Art würde ichs gar bald so weit bringen, keiner Begierde widerstehen zu können. »Wozu brauchst du zu widerstehen, so lange deine Begierden in den Schranken der Natur und der Mäßigung bleiben?« Wie aber, wenn endlich das Weib meines Freundes, oder welche es sonst wäre, die der ehrwürdige Name einer Mutter gegen den bloßen Gedanken eines unkeuschen Anfalls sicher stellen soll; oder wie, wenn die unschuldige Jugend einer Tochter, die vielleicht kein andres Heuratsgut als ihre Unschuld und Schönheit hat; der Gegenstand dieser Begierden würde, über die ich durch so vieles Nachgeben alle Gewalt verloren hätte? »So hättest du dich in Griechenland wenigstens vor den Gesetzen vorzusehen. Allein was müßte das für ein Hirn sein, das in solchen Umständen kein Mittel ausfündig machen könnte, seine Leidenschaft zu vergnügen, ohne sich mit den Gesetzen abzuwerfen? Ich sehe, du kennest die Damen zu Athen und Sparta nicht.« O! was das betrifft, ich kenne so gar die Priesterinnen zu Delphi. Aber ists möglich, daß du im Ernste gesprochen hast? »Ich habe nach meinen Grundsätzen gesprochen. Die Gesetze haben in gewissen Staaten, (denn es gibt einige, wo sie mehr Nachsicht haben) nötig gefunden, unser natürliches Recht an eine jede, die unsre Begierden erregt, einzuschränken. Allein da dieses nur geschah, um gewisse Ungelegenheiten zu verhindern, die aus dem ungescheuten Gebrauch jenes Rechts in solchen Staaten zu besorgen wären, so siehst du, daß der Geist und die Absicht des Gesetzes nicht verletzt wird, wenn man vorsichtig genug ist zu den Ausnahmen die man davon macht keine Zeugen zu nehmen.« O Hippias! rief Agathon hier aus, ich habe dich, wohin ich dich bringen wollte. Du siehest die Folgen deiner Grundsätze. Wenn alles an sich selbst recht ist, was meine Begierden wollen; wenn die ausschweifenden Forderungen der Leidenschaft unter dem Namen des Nützlichen, den sie nicht verdienen, die einzige Richtschnur unsrer Handlungen sind; wenn die Gesetze nur mit einer guten Art ausgewichen werden müssen, und im Dunkeln alles erlaubt ist; wenn die Tugend, und die Hoffnungen der Tugend nur Schimären sind; was hindert die Kinder, sich wider ihre Eltern zu verschwören? Was hindert die Mutter, sich selbst und ihre Tochter dem Meistbietenden Preis zu geben? Was hindert mich, wenn ich dadurch gewinnen kann, den Dolch in die Brust meines Freundes zu stoßen, die Tempel der Götter zu berauben, mein Vaterland zu verraten, oder mich an die Spitze einer Räuberbande zu stellen; und, wenn ich anders Macht genug habe, ganze Länder zu verwüsten, ganze Völker in ihrem Blute zu ertränken? Siehest du nicht, daß deine Grundsätze, die du so unverschämt Weisheit nennest, und durch eine künstliche Vermischung des Wahren mit dem Falschen scheinbar zu machen suchst, wenn sie allgemein würden, die Menschen in weit ärgere Ungeheuer, als Hyänen, Tiger und Crocodile sind, verwandeln würden? Du spottest der Tugend und Religion? Wisse, nur den unauslöschlichen Zügen, womit ihr Bild in unsre Seelen eingegraben ist, nur dem geheimen und wunderbaren Reiz, der uns zu Wahrheit, Ordnung und Güte zieht, und den Gesetzen besser zu starten kommt, als alle Belohnungen und Strafen, ist es zuzuschreiben, daß es noch Menschen auf dem Erdboden gibt, und daß unter diesen Menschen noch ein Schatten von Sittlichkeit und Güte zu finden ist. Du erklärst die Ideen von Tugend und sittlicher Vollkommenheit für Phantasien. Siehe mich hier, Hippias, so wie ich hier bin, biete ich den Verführungen aller deiner Cyanen, den scheinbarsten Überredungen deiner Weisheit, und allen Vorteilen, die In mir deine Grundsätze und dein Beispiel versprechen, trotz. Eine einzige von diesen Phantasien ist hinreichend die unwesentliche Zauberei aller dieser Blendwerke zu zerstreuen. Laß die Tugend immer eine Schwärmerei sein, diese Schwärmerei macht mich glücklich, und würde alle Menschen glücklich, und den ganzen Erdboden zu einem Himmel machen, wenn deine Grundsätze, und diejenige, welche sie ausüben, nicht, so weit ihr ansteckendes Gift dringt, Elend und Verderbnis ausbreiteten.
Agathon wurde ganz glühend, indem er dieses sagte; und ein Maler, um den zürnenden Apollo zu malen, hätte sein Gesicht in diesem Augenblick zum Urbild nehmen müssen. Allein der weise Hippias erwiderte diesen Eifer mit einem Lächeln, welches dem Momus selbst Ehre gemacht hätte, und sagte ohne seine Stimme zu verändern: Nunmehr glaube ich dich zu kennen, Callias, und du wirst von meinen Verführungen weiter nichts zu besorgen haben.
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