Gradiva
Jensen, Wilhelm
Gradiva
Wilhelm Jensen
Gradiva
Ein pompejanischen Phantasiestück
Beim Besuche einer der großen Antikensammlungen Roms hatte Norbert Hanold ein Reliefbild entdeckt, das ihn ausnehmend angezogen, so daß er sehr erfreut gewesen war, nach Deutschland zurückgekehrt, einen vortrefflichen Gipsabguß erhalten zu können. Der hing nun schon seit einigen Jahren an einem bevorzugten Wandplatz seines sonst zumeist von Bücherständern umgebenen Arbeitszimmers, sowohl im richtigen Lichtauffall, als an der, wenngleich nur kurz, von der Abendsonne besuchten Seite. Ungefähr in Drittel-Lebensgröße stellte das Bildnis eine vollständige, im Schreiten begriffene weibliche Gestalt dar, noch jung, doch nicht mehr im Kindesalter, andrerseits indes augenscheinlich keine Frau, sondern eine römische Virgo, die etwa in den Anfang der Zwanziger-Jahre eingetreten. Sie erinnerte in nichts an die vielfach erhaltenen Reliefbilder einer Venus, Diana oder sonstigen Olympierin, ebensowenig an eine Psyche oder Nymphe. In ihr gelangte etwas im nicht niedrigen Sinn Menschlich-Alltägliches, gewissermaßen ›Heutiges‹ zur körperhaften Wiedergabe, als ob der Künstler, statt wie in unsern Tagen mit dem Stift eine Skizze auf ein Blatt hinzuwerfen, sie auf der Straße im Vorübergehen rasch nach dem Leben im Tonmodell festgehalten habe. Eine hochwüchsige und schlanke Gestalt, deren leichtgewelltes Haar ein faltiges Kopftuch beinahe völlig umschlungen hielt; von dem ziemlich schmalen Gesicht ging nicht das geringste einer blendenden Wirkung aus. Doch lag ihm unverkennbar auch fremd ab, eine solche üben zu wollen; in den feingebildeten Zügen drückte sich eine gleichmütige Achtlosigkeit auf das umher Vorgehende aus, das ruhig vor sich hinschauende Auge sprach von voll unbeeinträchtigter leiblicher Sehkraft und still in sich zurückgezogenen Gedanken. So fesselte das junge Weib keineswegs durch plastische Formenschönheit, besaß aber etwas bei den antiken Steingebilden Seltenes, eine naturwahre, einfache, mädchenhafte Anmut, die den Eindruck regte, ihm Leben einzuflößen. Hauptsächlich geschah dies wohl durch die Bewegung, in der sie dargestellt war. Nur ganz leicht vorgeneigten Kopfes, hielt sie mit der linken Hand ihr außerordentlich reichfaltiges, vom Nacken bis zu den Knöcheln niederfließendes Gewand ein wenig aufgerafft, so daß die Füße in den Sandalen sichtbar wurden. Der linke hatte sich vorgesetzt, und der rechte, im Begriff, nachzufolgen, berührte nur lose mit den Zehenspitzen den Boden, während die Sohle und Ferse sich fast senkrecht emporhoben. Diese Bewegung rief ein Doppelgefühl überaus leichter Behendigkeit der Ausschreitenden wach und zugleich eines sicheren Ruhens auf sich. Das verlieh ihr, ein flugartiges Schweben mit festem Auftreten verbindend, die eigenartige Anmut.
Wo war sie so gegangen und wohin ging sie? Doktor Norbert Hanold, Dozent der Archäologie, fand eigentlich für seine Wissenschaft an dem Relief nichts sonderlich Beachtenswertes. Es war kein plastisches Erzeugnis alter großer Kunst, sondern im Grunde ein römisches Genrebild, und er wußte sich nicht klarzustellen, was daran seine Aufmerksamkeit erregt habe, nur daß er von etwas angezogen worden und diese Wirkung des ersten Anblicks sich seitdem unverändert forterhalten habe. Um dem Bildwerk einen Namen beizulegen, hatte er es für sich ›Gradiva‹ benannt, ›die Vorschreitende‹; das war zwar ein von den alten Dichtern lediglich dem Mars Gradivus, dem zum Kampf ausziehenden Kriegsgott, verliehenes Beiwort, doch Norbert erschien es für die Haltung und Bewegung des jungen Mädchens am besten bezeichnend. Oder, nach dem Ausdruck unserer Zeit, der jungen Dame, denn unverkennbar gehörte sie nicht unterem Stande an, war die Tochter eines Nobilis, jedenfalls eines honesto loco ortus. Vielleicht – ihre Erscheinung erweckte ihm unwillkürlich die Vorstellung – konnte sie vom Hause eines patrizischen Aedilis sein, der sein Amt im Namen der Ceres ausübte, und befand sich zu irgendeiner Verrichtung auf dem Weg nach dem Tempel der Göttin.
Doch einem Gefühl des jungen Archäologen stand's entgegen, sie sich in den Rahmen der großen, lärmvollen Stadtwelt Roms einzufügen. Ihr Wesen, ihre ruhige stille Art gehörte ihm nicht in dies tausendfältige Getriebe, drin niemand auf den andern achtete, sondern in eine kleinere Ortschaft, wo jeder sie kannte, stillstehend und ihr nachblickend zu einem Begleiter sagte: »Das ist Gradiva« – ihren wirklichen Namen vermochte Norbert nicht an die Stelle zu setzen – »die Tochter des ... sie geht am schönsten von allen Jungfrauen in unserer Stadt.«
Als ob er's mit eigenem Ohr so vernommen, hatte sich das ihm im Kopfe festgesetzt und drin eine andere Annahme fast zur Überzeugung ausgebildet. Auf seiner italienischen Reise war er mehrere Wochen hindurch zum Studium der alten Trümmerreste in Pompeji verblieben und in Deutschland ihm eines Tages plötzlich aufgegangen, die von dem Bild Dargestellte schreite dort irgendwo auf den wieder ausgegrabenen eigentümlichen Trittsteinen, die bei regnerischem Wetter einen trockenen Übergang von einer Seite der Straße zur anderen ermöglicht und doch auch Durchlaß für Wagenräder gestattet hatten. So sah er sie, wie ihr einer Fuß sich über die Lücke zwischen zwei Steinen hinübergesetzt, während der andere im Begriff stand, nachzufolgen, und bei der Betrachtung der Ausschreitenden baute sich das sie näher und weiter Umgebende wie leibhaftig vor seiner Vorstellungskraft auf. Sie erschuf ihm, unter Beihilfe seiner Altertumskenntnis, den Anblick der lang hingedehnten Straße, zwischen deren beide Häuserreihen mannigfach Tempelgebäude und Säulenhallen sich einmischten. Auch Handel und Gewerbe traten ringsum zur Schau, tabernae, officinae, cauponae, Verkaufsläden, Werkstätten, Schankbuden; Bäcker hielten ihre Brote ausgelegt, Tonkrüge, in marmorne Ladentische eingelassen, boten alles für den Haushalt und die Küche Erforderliche dar; an der Straßenkreuzungsecke saß eine Frau, in Körben Gemüse und Früchte feilbietend; von einem halben Dutzend der großen Walnüsse hatte sie die Hälfte der Schale weggetan, um zur Reizung der Kauflust den Kerninhalt als frisch und tadellos zu zeigen. Wohin das Gesicht sich wendete, stieß es auf lebhafte Farben, bunt bemalte Mauerflächen, Säulen mit roten und gelben Kapitellen; alles funkelte und strahlte in mittägiger Sonne Blendung zurück. Weiter abwärts ragte auf hohem Sockel eine weißblitzende Statue empor, darüberher sah aus der Weite, doch von zitterndem Spiel der heißen Luft halb verschleiert, der Mons Vesuvius, noch nicht in seiner heutigen Kegelgestalt und braunen Öde, sondern bis gegen den zerfurchten Schroffengipfel hinan mit grünflimmerndem Pflanzenwuchs bedeckt. In der Straße bewegten sich nur wenig Leute, nach Möglichkeit einen Schattenwurf aufsuchend, hin und her, die Glut der sommerlichen Mittagsstunde lähmte das sonst geschäftige Treiben. Dazwischen schritt die Gradiva über die Trittsteine dahin, scheuchte eine goldgrünschillernde Lazerte von ihnen fort.
So stand's lebendig vor Norbert Hanolds Augen, allein aus der täglichen Anschauung ihres Kopfes hatte sich ihm allmählich noch eine neue Mutmaßung herausgebildet. Der Schnitt ihrer Gesichtszüge bedünkte ihn mehr und mehr nicht von römischer oder latinischer, sondern von griechischer Art, so daß sich ihm nach und nach ihre hellenische Abstammung zur Gewißheit erhob. Ausreichende Begründung dafür lieferte die alte Besiedelung des ganzen südlichen Italiens von Griechenland her, und weitere, den darauf Fußenden angenehm berührende Vorstellungen entsprangen daraus. Dann hatte die junge ›domina‹ vielleicht in ihrem Elternhause Griechisch gesprochen und war, mit griechischer Bildung genährt, aufgewachsen.
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