Bei eingehender Betrachtung fand dies auch in dem Ausdruck des Antlitzes Bestätigung, es lag entschieden unter seiner Anspruchslosigkeit Kluges und etwas fein Durchgeistigtes verborgen.
Diese Konjekturen oder Ausfindungen konnten indes ein wirkliches archäologisches Interesse an dem kleinen Bildwerk nicht begründen, und Norbert war sich auch bewußt, etwas anderes, und zwar in seine Wissenschaft Fallendes sei's, was ihn zu so häufiger Beschäftigung damit zurückkehren lasse. Es handelte sich für ihn um eine kritische Urteilsabgabe, ob der Künstler den Vorgang des Ausschreitens bei der Gradiva dem Leben entsprechend wiedergegeben habe. Darüber vermochte er nicht ins Klare zu gelangen, und seine reichhaltige Sammlung von Abbildungen antiker plastischer Werke verhalf ihm ebenfalls nicht dazu. Ihn bedünkte nämlich die fast senkrechte Aufstellung des rechten Fußes als übertrieben; bei allen Versuchen, die er selbst unternahm, ließ die nachziehende Bewegung seinen Fuß stets in einer weit minder steilen Haltung; mathematisch formuliert, stand der seinige während des flüchtigen Verharrungsmomentes nur in der Hälfte des rechten Winkels gegen den Boden, und so erschien's ihm auch für die Mechanik des Gehens, weil am zweckdienlichsten, als naturgemäß. Er benützte einmal die Anwesenheit eines ihm befreundeten jungen Anatomen, diesem die Frage vorzulegen, doch auch der war zur Abgabe eines sicheren Entscheides außerstande, da er nie Beobachtungen in dieser Richtung angestellt hatte. Die von dem Freunde an sich selbst gewonnene Erfahrung bestätigte er wohl als mit seiner eigenen übereinstimmend, wußte indes nicht zu sagen, ob vielleicht die weibliche Gangweise sich von der männlichen unterscheide, und die Frage gelangte nicht zu einer Lösung.
Trotzdem war ihre Besprechung nicht ertraglos gewesen, denn sie hatte Norbert Hanold auf etwas ihm bisher nicht Eingefallenes gebracht, zur Aufhellung der Sache selbst Beobachtungen nach dem Leben anzustellen. Das nötigte ihn allerdings zu einem ihm durchaus fremdartigen Tun; das weibliche Geschlecht war bisher für ihn nur ein Begriff aus Marmor oder Erzguß gewesen, und er hatte seinen zeitgenössischen Vertreterinnen desselben niemals die geringste Beachtung geschenkt. Aber sein Erkenntnisdrang versetzte ihn in einen wissenschaftlichen Eifer, mit dem er sich der von ihm als notwendig erkannten eigentümlichen Ausforschung hingab. Diese zeigte sich in dem Menschengedränge der Großstadt durch viele Schwierigkeiten behindert, ließ ein Ergebnis nur vom Aufsuchen minder belebter Straßen erhoffen. Doch auch hier machten zumeist lange Kleider die Gangart völlig unerkennbar, hauptsächlich trugen nur die Dienstmägde kurze Röcke, konnten jedoch mit Ausnahme einer geringen Minderzahl schon wegen ihres groben Schuhwerks für die Lösung der Frage nicht wohl in Betracht fallen. Trotzdem fuhr er beharrlich in seiner Auskundung fort, bei trockener wie bei nasser Witterung; er nahm gewahr, daß die letztere noch am ehesten Erfolg verheiße, da sie die Damen zum Aufraffen ihrer Kleidsäume veranlasse. Unvermeidlich mußte mancher von ihnen sein prüfend nach ihren Füßen gerichteter Blick auffallen; nicht selten gab ein unmutiger Gesichtszug der Betrachteten kund, sie sehe sein Behaben als eine Keckheit oder Ungezogenheit an; hin und wieder, da er ein junger Mann von sehr einnehmendem Äußern war, drückte sich in ein paar Augen das Gegenteil, etwas Ermutigendes aus, doch kam ihm das eine sowenig zum Verständnis wie das andere. Nach und nach dagegen gelang seiner Ausdauer dennoch die Einsammlung einer ziemlichen Anzahl von Beobachtungen, die seinem Blick mannigfache Verschiedenheiten vorüberführten. Diese gingen langsam, jene hurtig, die einen schwerfällig, die andern leichter beweglich. Manche ließen die Sohle nur eben über den Boden hingleiten, nicht viele hoben sie zu zierlicherer Haltung schräger auf. Unter allen aber bot nicht eine einzige die Gangweise der Gradiva zur Schau; das erfüllte ihn mit der Genugtuung, er habe sich in seinem archäologischen Urteil über das Relief nicht geirrt. Andrerseits indes bereiteten seine Wahrnehmungen ihm einen Verdruß, denn er fand die senkrechte Aufstellung des anhaltenden Fußes schön und bedauerte, daß sie, nur von der Phantasie oder Willkür des Bildhauers geschaffen, der Lebenswirklichkeit nicht entsprach.
Bald nachdem seine pedestrischen Prüfungen ihm diese Erkenntnis eingetragen, hatte er eines Nachts einen schreckvoll beängstigenden Traum. Darin befand er sich im alten Pompeji, und zwar grade an dem 24. Augusttage des Jahres 79, der den furchtbaren Ausbruch des Vesuvs mit sich brachte. Der Himmel hielt die zur Vernichtung ausersehene Stadt in einen schwarzen Qualmmantel eingeschlagen, nur da und dort ließen durch eine Lücke die aus dem Krater auflodernden Flammenmassen etwas von blutrotem Licht Übergossenes erkennen; alle Bewohner suchten, einzeln oder wirr zusammengeballt, von dem unbekannten Entsetzen kopfverloren-betäubt, Rettung in der Flucht. Auch auf Norbert stürzten die Lapilli und der Aschenregen nieder, doch, wie's in Träumen wunderbar geschieht, verletzten sie ihn nicht, und ebenso roch er den tödlichen Schwefeldunst in der Luft, ohne davon am Atmen behindert zu werden. Wie er so am Rande des Forums neben dem Jupitertempel stand, sah er plötzlich in geringer Entfernung die Gradiva vor sich; bis dahin hatte ihn kein Gedanke an ihr Hiersein angerührt, jetzt aber ging ihm auf einmal und als natürlich auf, da sie ja eine Pompejanerin sei, lebe sie in ihrer Vaterstadt und, ohne daß er's geahnt habe, gleichzeitig mit ihm. Auf den ersten Blick erkannte er sie, ihr steinernes Abbild war bis in jede Einzelheit vortrefflich geraten und gleicherweise ihre schreitende Bewegung; unwillkürlich bezeichnete er sich diese als ›lente festinans‹. Und so ging sie ruhig-behend über die Fliesenplatten des Forums dem Apollotempel zu, mit der ihr eigenen gleichmütigen Achtlosigkeit für ihre Umgebung. Sie schien von dem auf die Stadt niederbrechenden Geschick nichts zu bemerken, nur ihren Gedanken nachzuhängen; darüber vergaß auch er den furchtbaren Vorgang, wenigstens ein paar Augenblicke lang, suchte in einem Gefühl, ihre lebende Wirklichkeit werde ihm rasch wieder verschwinden, sich diese aufs genaueste einzuprägen. Dann indes, ihn jählings überfallend, kam ihm zum Bewußtwerden, wenn sie sich nicht eilig rette, müsse sie dem allgemeinen Untergang mit verfallen, und heftiger Schreck entriß seinem Mund einen Warnruf. Den hörte sie auch, denn ihr Kopf wendete sich ihm entgegen, so daß ihr Antlitz ihm jetzt flüchtig die Vollansicht bot, doch mit einem völlig verständnislosen Ausdruck und ohne weiter achtzugeben, setzte sie ihre Richtung in der vorherigen Weise fort. Dabei aber entfärbte ihr Gesicht sich blasser, wie wenn es sich zu weißem Marmor umwandle; sie schritt noch bis zum Porticus des Tempels hinan, doch dort zwischen den Säulen setzte sie sich auf eine Treppenstufe und legte langsam den Kopf auf diese nieder. Nun fielen die Lapilli so massenhaft, daß sie sich zu einem völlig undurchsichtigen Vorhang verdichteten; ihr hastig nacheilend, fand er indes den Weg zu der Stelle, an der sie seinem Blick verschwunden war, und da lag sie, von dem vorspringenden Dach geschützt, auf der breiten Stufe wie zum Schlaf hingestreckt, doch nicht mehr atmend, offenbar von den Schwefeldünsten erstickt. Vom Vesuv her überflackerte der rote Schein ihr Antlitz, das mit geschlossenen Lidern vollständig dem eines schönen Steinbildes glich; nichts von einer Angst und Verzerrung gab sich in den Zügen kund, ein wundersamer, sich ruhig in das Unabänderliche fügender Gleichmut sah aus ihnen.
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