Daß außer ihren Gegenständen aus einer fernen Vergangenheit auch noch eine Gegenwart um ihn herum vorhanden sei, kam ihm nur äußerst schattenhaft zur Empfindung; für sein Gefühl waren Marmor und Bronze nicht tote Mineralien, vielmehr das einzig wirklich Lebendige, den Zweck und Wert des Menschenlebens zum Ausdruck Bringende. Und so saß er zwischen seinen Wänden, Büchern und Bildern, keines andern Verkehrs bedürftig, sondern jedem als einer leeren Zeitvergeudung möglichst ausweichend und sich nur sehr widerwillig ab und zu in die unabwendbare Plage einer Gesellschaft fügend, deren Besuch altüberlieferte Verbindungen seines Elternhauses ihm aufnötigten. Doch war's bekannt, daß er an solchen Zusammenkünften ohne Augen und Ohren für seine Umgebung teilnahm, unter einer Vorgabe sich stets nach der Beendigung des Mittag- oder Abendessens, sobald es irgend tunlich wurde, empfahl, und auf der Straße niemand von denen, mit welchen er am Tisch gesessen, begrüßte. Das diente dazu, ihn besonders bei jungen Damen in ein wenig günstiges Licht zu stellen; denn selbst eine solche, mit der er ausnahmsweise ein paar Worte gesprochen hatte, blickte er bei einer Begegnung grußlos als ein nie gesehenes, wildfremdes Gesicht an.
Ob etwa die Archäologie an sich eine etwas kuriose Wissenschaft sein mochte oder ihre Legierung mit dem Wesen Norbert Hanolds eine absonderliche Verquickung bewerkstelligt hatte, so wie diese war, vermochte sie auf andere nicht viel Anziehung zu üben und gereichte ihm selbst wenig zum Genuß des Lebens, nach welchem die Jugend zu trachten pflegt. Doch hatte, vielleicht in wohlmeinender Absicht, die Natur ihm als Zugabe gewissermaßen ein Korrektiv durchaus unwissenschaftlicher Art ins Blut gelegt, ohne daß er selbst von diesem Besitztum wußte, eine überaus lebhafte Phantasie, die sich bei ihm nicht nur in Träumen, sondern oft auch im Wachen zur Geltung brachte und im Grunde seinen Kopf für nüchtern-strenge Forschungsmethodik nicht vorwiegend geeignet machte. Aus dieser Mitgift aber entsprang wieder eine Ähnlichkeit zwischen ihm und dem Kanarienvogel. Der war in der Gefangenschaft geboren, hatte nie anderes als seinen ihn eng umsperrenden Käfig gekannt, trug indes trotzdem ein Gefühl in sich, daß ihm etwas fehle, und ließ das Verlangen nach diesem Unbekannten aus seiner Kehle hervorklingen. So verstand's Norbert Hanold, bedauerte ihn deshalb, in sein Zimmer zurückgekehrt und wieder aus dem Fenster liegend, nochmals, und ward dabei von einer Empfindung heut' angerührt, ihm fehle gleichfalls etwas, wovon sich nicht sagen lasse, was es sei. Ein Nachdenken darüber konnte drum auch nichts nützen; die unbestimmte Gefühlserregung kam aus der linden Frühlingsluft, den Sonnenstrahlen, der Weite mit ihrem Duftanhauch und gestaltete ihm einen Vergleich herauf, er sitze hier eigentlich ebenfalls in einem Käfig hinter Gitterstäben. Doch gesellte sich dem sofort beschwichtigend hinzu, seine Lage sei ungleich vorteilhafter als die des Kanarienvogels, denn er habe Flügel im Besitz, die durch nichts am beliebigen Ausfliegen ins Freie behindert wurden.
Das aber war jetzt ein Vorstellungsergebnis, von dem sich durch Nachdenken weiter fortschreiten ließ. Norbert gab sich dieser Beschäftigung ein Weilchen hin, doch dauerte es nicht lange, bis der Vorsatz einer Frühlingsreise in ihm feststand. Den führte er am selben Tage noch aus, packte seinen leichten Handkoffer, warf beim Abendanbruch noch einen bedauerlichen Verabschiedungsblick auf die Gradiva, die, von den letzten Sonnenstrahlen überflossen, behender denn je über die unsichtbaren Trittsteine unter ihren Füßen auszuschreiten schien, und fuhr mit dem Nachtschnellzug in südlicher Richtung davon. Wenn auch der Antrieb zu einer Reise ihm aus einer unbenennbaren Empfindung entsprungen war, hatte die weitere Überlegung doch als selbstverständlich ergeben, daß sie einem wissenschaftlichen Zweck dienen müsse. Ihm war aufgegangen, daß er vernachlässigt habe, sich in Rom bei mehreren Statuen über einige wichtige archäologische Fragen zu vergewissern, und er begab sich, ohne unterwegs anzuhalten, in anderthalbtägiger Fahrt dorthin.
Nicht allzuviele machen an sich selbst die Erfahrung, daß es sehr schön ist, jung, vermöglich und unabhängig im Frühling aus deutschen Landen nach Italien zu ziehen, denn selbst die mit jenen drei Eigenschaften Ausgerüsteten sind solcher Schönheitsempfindung nicht allmal zugänglich. Besonders wenn sie, und leider die Mehrzahl ausmachend, sich in den einer Hochzeit nachfolgenden Tagen und Wochen zu zweien befinden, nichts ohne ein außerordentliches, sich durch zahlreiche Superlative kundgebendes Entzücken an ihren Augen vorübergleiten lassen und schließlich nur das nämliche als Ausbeute mit nach Hause zurückbringen, was sie beim Dortverbleiben ganz ebenso entdeckt, empfunden und genossen hätten. In umgekehrter Richtung wie die Zugvögel pflegen solche Dualisten im Frühling die Alpenpässe zu überschwärmen. Norbert Hanold ward während der ganzen Fahrt von ihnen wie in einem rollenden Taubenschlag umflügelt und umflötet und eigentlich zum erstenmal im Leben in die Zwangslage versetzt, seine ihn umgebenden Mitmenschen mit Auge und Ohr genauer in sich aufzunehmen. Obwohl sie nach ihrer Sprache sämtlich deutsche Landsleute waren, rief seine Stammeszugehörigkeit zu ihnen durchaus kein Stolzgefühl in ihm wach, vielmehr nur das ziemlich entgegengesetzte, er habe vernunftgemäß wohl daran getan, sich bisher mit dem lebendigen ›Homo sapiens‹ der Linnéschen Klassifizierung möglichst wenig zu befassen. Hauptsächlich in bezug auf die weibliche Hälfte dieser Gattung; zum erstenmal auch sah er derartig vom Paarungstrieb Zusammengesellte in seiner nächsten Nähe, außerstande zu begreifen, was sie gegenseitig dazu veranlaßt haben könne. Ihm blieb unverständlich, warum die Frauen sich diese Männer ausgewählt hätten, noch rätselhafter aber, weshalb die Wahl der Männer auf diese Frauen gefallen sei. Bei jeder Kopfaufhebung mußte sein Blick auf das Gesicht einer von ihnen geraten und traf auf keines, das die Augen durch eine äußere Wohlbildung einnahm oder innerlich auf einen geistigen und gemütlichen Inhalt hinwies. Allerdings fehlte ihm ein Maßstab, um sie daran zu bemessen, denn mit der erhabenen Schönheit der alten Kunstwerke durfte man das heutige weibliche Geschlecht natürlich nicht in Vergleich bringen, doch trug er eine dunkle Empfindung in sich, daß er sich dieses ungerechten Verfahrens nicht schuldig mache, sondern in allen Zügen etwas vermisse, zu dessen Darbietung auch das gewöhnliche Leben verpflichtet sei. So dachte er manche Stunden hindurch über das sonderbare Treiben der Menschen nach und kam zu dem Ergebnis, unter allen ihren Torheiten nehme jedenfalls das Heiraten, als die größte und unbegreiflichste, den obersten Rang ein, und ihre sinnlosen Hochzeitsreisen nach Italien setzten gewissermaßen dieser Narretei die Krone auf.
Wiederum aber ward er an den von ihm in der Gefangenschaft zurückgelassenen Kanarienvogel erinnert, denn er saß auch hier in einem Käfig, rundum von den ebenso verzückten als nichtig-leeren jungen Ehepaargesichtern eingepfercht, an denen vorbei sein Blick nur dann und wann einmal durch die Fenster hinausschweifen konnte. Daraus mochte sich wohl erklären, daß die draußen seinen Augen vorüberziehenden Dinge ihm andere Eindrücke als damals erregten, wie er sie vor einigen Jahren gesehen hatte. Das Olivenlaub flimmerte in einem stärkeren Silberglanz, die da und dort einsam gegen den Himmel ragenden Zypressen und Pinien zeichneten sich mit schöneren und eigenartigeren Umrissen ab, reizvoller bedünkten ihn die auf den Berghöhen hingelagerten Ortschaften, wie wenn jede gleichsam ein Individuum mit verschiedengeartetem Gesichtsausdruck sei, und der Trasimenische See erschien ihm von einer weichen Bläue, wie er sie noch nie an einer Wasserfläche wahrgenommen. Ihn rührte ein Gefühl an, den Schienenstrang umgebe rechts und links eine ihm fremde Natur, als ob er diese vormals in beständigem Dämmerlicht oder bei grauem Regenfall durchfahren haben müsse und jetzt zum erstenmal in ihrer von der Sonne vergoldeten Farbenfülle sehe. Ein paarmal ertappte er sich auf einem ihm bisher unbekannt gewesenen Wunsch, aussteigen und zu Fuß sich einen Weg nach dieser und jener Stelle suchen zu können, weil sie ihn ansah, wie wenn sie irgend etwas Eigentümliches, wie Geheimnisvolles verborgen halte. Doch ließ er sich von solchen vernunftwidrigen Anwandlungen nicht verleiten, sondern der ›direttissimo‹ brachte ihn gradewegs nach Rom, wo ihn bereits vor der Einfahrt in den Bahnhof die alte Welt mit den Trümmerresten des Tempels der Minerva Medica in Empfang nahm. Aus seinem mit den Inseparables angefüllten Käfig in Freiheit gelangt, nahm er vorderhand in einem ihm bekannten Gasthof Unterkunft, um sich von dort aus ohne Übereilung nach einer seinem Wunsch entsprechenden Privatwohnung umzusehen.
Eine solche fand er im Verlauf des nächsten Tages noch nicht, sondern kehrte am Abend nochmals in seinen Albergo zurück und begab sich, von der ungewohnten italienischen Luft, der starken Sonnenwirkung, vielem Umherwandern und dem Straßenlärm ziemlich ermüdet, zur Ruhe. So fing auch schon das Bewußtsein bald an ihm zu verdämmern, doch grade im Einschlafen begriffen, ward er wieder aufgeweckt, denn sein Zimmer war durch eine nur durch einen Schrank verstellte Tür mit dem nebenan befindlichen verbunden, und in dieses traten zwei Gäste, die am Morgen davon Besitz genommen, ein.
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