Doch wurden sie rasch undeutlicher, da der Wind jetzt den Aschenregen hierhertrieb, der sich erst wie ein grauer Florschleier über sie breitete, dann den letzten Schimmer ihres Gesichtes auslöschte und bald auch wie ein nordisch-winterliches Flockengestöber die ganze Gestalt unter einer gleichmäßigen Decke begrub. Draus ragten die Säulen des Apollotempels auf, indes auch nur zur Hälfte mehr, denn eilig häufte sich an ihnen ebenfalls der graue Aschenfall empor.

Als Norbert Hanold aufwachte, lag ihm noch das verworrene Geschrei der nach Rettung suchenden Bewohner Pompejis und der dumpf dröhnende Brandungsanschlag der wilderregten See im Ohr. Dann kam er zur Besinnung; die Sonne warf ein goldenes Glanzband über sein Bett, ein Aprilmorgen war's, und von draußen scholl das vielfältige Gelärm der Großstadt, Ausrufe von Verkäufern und Wagengeroll, bis zu seinem Stockwerk herauf. Doch stand das Traumbild noch mit jeder Einzelheit ihm aufs deutlichste vor den geöffneten Augen, und es bedurfte einiger Zeit, eh' er sich aus einem Halbzustand der Sinnbefangenheit losmachen konnte, daß er nicht wirklich in der Nacht vor bald zwei Jahrtausenden dem Untergang an der Bucht von Neapel beigewohnt habe. Erst beim Ankleiden ward er allmählich davon frei, dagegen gelang's ihm nicht, sich durch Anwendung kritischen Denkens seiner Vorstellung zu entwinden, daß die Gradiva in Pompeji gelebt und dort im Jahre 79 mit verschüttet worden sei. Vielmehr hatte die erstere Annahme sich ihm zur Gewißheit befestigt, und ebenso schloß sich jetzt auch die zweite daran. Mit einer wehmütigen Empfindung betrachtete er in seinem Wohnzimmer das alte Relief, das für ihn eine neue Bedeutung angenommen. Es war gewissermaßen ein Gruftdenkmal, mit dem der Künstler das Bild der so früh aus dem Leben Geschiedenen für die Nachwelt forterhalten hatte. Doch wenn man sie mit aufgegangenem Verständnisse ansah, ließ der Ausdruck ihres ganzen Wesens nicht zweifelhaft, daß sie sich in der verhängnisvollen Nacht wirklich mit solcher Ruhe zum Sterben hingelegt habe, wie's der Traum ihm gezeigt. Ein altes Wort sagte, die Lieblinge der Götter seien's, die sie in blühender Jugend von der Erde fortnähmen.

Norbert legte sich, ohne seinen Hals noch in einen Kragen eingeengt zu haben, in leichter häuslicher Morgenkleidung, mit Hausschuhen an den Füßen, ins geöffnete Fenster und blickte hinaus. Der endlich auch zum Norden vorgeschrittene Frühling lag draußen, gab sich in der großen Steingrube der Stadt zwar nur durch das Himmelsblau und die linde Luft kund, doch ein Ahnen berührte aus ihr die Sinne, weckte Verlangen in die sonnige Weite nach Blättergrün, Duft und Vogelgesang; ein Anhauch davon kam doch auch bis hierher, die Marktweiber auf der Straße hatten ihre Körbe mit ein paar bunten Wiesenblumen besteckt, und an einem offenstehenden Fenster schmetterte ein Kanarienvogel im Käfig sein Lied. Der arme Bursche tat Norbert leid, er hörte unter dem hellen Klang trotz seinem Jubeltone die Sehnsucht nach der Freiheit, der Ferne hinaus.

Doch verweilten die Gedanken des jungen Archäologen nur flüchtig dabei, denn etwas anderes hatte sich ihnen aufgedrängt. Ihm geriet's erst jetzt zum Bewußtsein, daß er in dem Traum nicht genau darauf geachtet habe, ob die belebte Gradiva wirklich auch so gegangen sei, wie das Bildwerk es darstellte und wie die heutigen Frauen jedenfalls nicht gingen. Das war merkwürdig, weil sein wissenschaftliches Interesse an dem Relief darauf beruhte; andrerseits freilich erklärte sich's aus der Erregung, in die ihre Lebensgefährdung ihn versetzt gehabt. Er suchte sich, indes vergeblich, ihre Gangart ins Gedächtnis zurückzurufen.

Da durchfuhr ihn plötzlich einmal etwas wie mit einem Ruck; im ersten Augenblick wußte er sich nicht zu sagen, von woher. Aber dann erkannte er's; drunten auf der Straße ging, ihm die Rückseite zuwendend, ein weibliches Wesen, nach Gestalt und Kleidung wohl eine junge Dame, leicht elastischen Schrittes dahin. Sie hielt mit der linken Hand ihren nur bis zu den Knöcheln herabreichenden Kleidsaum ein wenig aufgerafft, und seinen Augen erregte es den Eindruck, als ob bei der schreitenden Bewegung sich die Sohle ihres nachfolgenden schmalen Fußes für einen Moment auf den Zehenspitzen senkrecht vom Boden aufrichte. Es schien so, ein gewisses Erkennen ließ die Entfernung und der Niederblick von oben nicht zu.

Auf einmal befand Norbert Hanold sich inmitten der Straße, ohne noch recht zu wissen, wie er dorthin geraten sei. Er war, einem am Geländer niedergleitenden Knaben gleich, blitzgeschwind die Treppe hinuntergeflogen, lief unten zwischen Wagen, Karren und Menschen hindurch. Die letzteren richteten verwunderte Augen auf ihn, und von mehreren Lippen klangen lachende, halb spöttische Ausrufe. Daß sich diese auf ihn bezogen, ward ihm nicht verständlich, sein Blick suchte nach der jungen Dame umher, und er glaubte auch, auf ein paar Dutzend Schritte weit vor sich, ihre Kleidung zu unterscheiden. Doch nur den Oberteil, von der unteren Hälfte und den Füßen konnte er nichts gewahren, denn sie wurden durch das Getriebe sich auf dem Trottoir drängender Leute verdeckt. Nun reckte ein altes, behäbiges Gemüseweib die Hand nach seinem Ärmel, hielt ihn dran an und brachte halb grinsend vom Mund: »Sagen Sie mal, mein Muttersöhnchen, Sie haben heut' nacht wohl ein bißchen was zuviel Flüssigkeit in den Kopf gekriegt und suchen hier auf der Straße nach Ihrem Bett? Da tun Sie besser, erst mal nach Hause zu gehn und sich im Spiegel zu besehn.« Ein Gelächter umher bestätigte, daß er sich in einem für die Öffentlichkeit nicht schicklichen Anzug präsentierte, brachte ihm jetzt zur Erkenntnis, wie er bedachtlos aus seinem Zimmer davongelaufen sei. Das machte ihn betroffen, da er auf Anständigkeit der äußeren Erscheinung hielt, und, von seinem Vorhaben ablassend, kehrte er rasch in die Wohnung zurück. Offenbar von dem Traum her doch noch mit etwas verwirrten, ihm Täuschung vorgaukelnden Sinnen, denn er hatte als letztes wahrgenommen, daß bei dem Lachen und Rufen die junge Dame einen Augenblick den Kopf umgewendet habe, und er hatte kein fremdes Gesicht, sondern das der Gradiva von drüben herschauend zu sehen gemeint.

 

Doktor Norbert Hanold befand sich in der angenehmen Lage, durch beträchtlichen Vermögensbesitz unbeschränkter Herr seines Tuns und Lassens zu sein und bei dem Auftauchen einer Neigung in ihm nicht von einer Begutachtung derselben durch irgendwelche höhere Instanz als seine eigene Entscheidung abzuhängen. Darin unterschied er sich äußerst günstig von dem Kanarienvogel, der seinen angeborenen Trieb, aus dem Käfig in die sonnige Weite davonzukommen, nur erfolglos hinausschmettern konnte, sonst jedoch besaß der junge Archäologe mit jenem in manchem einige Ähnlichkeit. Er war nicht in der Naturfreiheit zur Welt gekommen und aufgewachsen, sondern eigentlich schon bei der Geburt zwischen Gitterstäben eingehegt worden, mit denen ihn Familien-Tradition durch Erziehung und Vorbestimmung umgeben. Von seiner frühen Kindheit auf hatte im Elternhause kein Zweifel darüber bestanden, daß er als einziger Sohn eines Universitätsprofessors und Altertumsforschers berufen sei, durch die nämliche Tätigkeit den Glanz des väterlichen Namens weiter zu erhalten, womöglich noch zu erhöhen, und so war diese Geschäftsfortsetzung ihm von jeher als die selbstverständliche Aufgabe seiner Lebenszukunft erschienen. Daran hatte er auch, nach dem frühen Abscheiden seiner Eltern völlig allein zurückgeblieben, getreulich festgehalten, im Anschlusse an sein vorzüglich bestandenes philologisches Examen die vorschriftsmäßige Studienreise nach Italien gemacht und auf dieser eine Fülle alter plastischer Kunstwerke, deren Nachbildungen ihm bisher nur zugänglich gewesen, im Original gesehen. Lehrreicheres als in den Sammlungen von Florenz, Rom, Neapel konnte nirgendwo für ihn geboten werden, er durfte sich das Zeugnis zuteilen, seine dortige Aufenthaltszeit aufs beste zur Bereicherung seiner Kenntnisse ausgenutzt zu haben, und war vollbefriedigt heimgekehrt, sich mit den neuen Errungenschaften ganz in seine Wissenschaft zu vertiefen.