Dieser Prozeß war vor dem großen Rat der Republik seit vierzig Jahren behandelt und noch unbeendet. Alle Jahre war zwischen den Vorstehern der Stadt und den Vorstehern der Landschaft deswegen ein Versöhnungsmahl auf sogenannte »ungerechte Kosten« veranstaltet worden, um dabei die streitführenden Parteien gütlich zu vergleichen. Weil aber beiderlei Vorstehern Wein und Braten des Versöhnungsmahls sehr gut schmeckte, kam die Versöhnung nie zustande, teils um nicht die Hoffnung zu einem künftigen neuen Schmaus zu verlieren, teils weil man immerfort auf Kosten des Unrechthabenden schmauste und keiner unrecht haben wollte.

Der Platzmajor hatte die kleinen Mängel an der Tür sogleich vermöge seines natürlichen Scharfblicks erkannt und die Tür statt zu verschließen auf der Stelle vernagelt, ja zu allem Überfluß noch durch den Stadtschreiber obrigkeitlich versiegeln lassen. Außerdem stand allezeit ein Stadtwächter mit der Partisane davor. Der Gefangene machte dem Wächter sogleich die triftige Frage, wie er als Gefangener sich in besonderen Fällen, die zur Leibes- und Lebensnotdurft gehören, zu verhalten habe? Dem Wächter fiel die Frage auf und schien ihm wichtig genug, deswegen dem Platzmajor und Stadtschreiber, die noch nicht weit entfernt waren, nachzulaufen und Verhaltungsbefehle einzuholen. Währenddem versuchte der Staatsbaumeister die Beschaffenheit der Tür, und weil auf der Stelle, wo sie nicht versiegelt und vernagelt war, die Türangeln beim ersten Druck auf den wurmstichigen Pfosten wichen, ging er hinaus, rückte Tür und Angel wieder ein und begab sich zur Hinterpforte weg nach Hause, ohne bemerkt zu werden.

Der treue Wächter kam zurück und brachte den unbarmherzigen Befehl des Stadt- und Platzmajors, der Gefangene möge sich in solchen Fällen helfen, wie er könne. Die Schildwache äußerte darüber zugleich ihr aufrichtiges Mitleiden. Weil aber der Staatsgefangene dem Partisanenträger keine Silbe erwiderte, ungeachtet derselbe wohl eine Viertelstunde lang erzählte, tröstete und guten Rat gab, schwieg dieser endlich auch und begnügte sich, von Zeit zu Zeit Nagel und Siegel zu beobachten.

 

In allen Gassen

 

Es war ein wirkliches Meisterstück von Reise, welche der Staatsbaumeister aus dem Gefängnis durch die Stadt nach seiner Wohnung machte, ohne bemerkt zu werden. Er brach in den Hinterhof des Staatsgebäudes durch einen geräumigen Stall, der auch gegen die dahinterliegende Gasse einen Ausgang hatte. In diesem Stalle wurden die obrigkeitlichen Schweine gemästet, welche bei der Gelegenheit froh waren, ins liebe Freie zu kommen. Von da sprang der Flüchtling in ein nahes Bäckerhaus, welches einst ein Ganzes mit dem nach der entgegengesetzten Straße stehenden Hause gewesen war. Er wußte zwar, daß seit der Teilung alles vorsichtig vermauert, auf dem Estrich jedoch noch eine Kommunikationspforte offen gelassen worden sei. Behend war er die Treppen hinauf, und weil die Pforte von Mehlsäcken verrammelt war, stürzte er dieselben aus dem nahen Erker in solcher Geschwindigkeit auf die Gasse, daß, ehe der sechste Sack platzend den Boden erreichte, Hans Dampf schon auf der andern Seite hinaus über die Gasse mit einem Sprung in des Platzmajors Haus war, worin sich ein Durchgang nach dem Gäßchen befand, in welchem vor kurzem Meister Pretzel das berühmte Unglück mit den Töpfen gehabt hatte. Ein neues Hindernis. Der Platzmajor hatte den Durchgang mit einem neuen Gänsestall verbaut, worin er, weil er den Gänse- und Federnhandel trieb, in mehreren Etagen bei dreißig dieser frommen Tiere übereinander nährte. Zum Glück war der Stall nicht massiv gebaut; das hölzerne Lattwerk flog links und rechts davon, und der Staatsbaumeister war schon in seinem eigenen Hause, ehe die Gänse alle durch ihr Geschrei und Umherflattern der ganzen Stadt ihre Freude wegen ihrer Erlösung bezeugen konnten.

So sehr auch ganz Lalenburg von den großen Ereignissen dieses Morgens überrascht und beschäftigt war, so daß man für nichts anderes mehr Sinn zu haben schien, als von der Verhaftung des edlen Hans Dampf, von dem fürstlichen Kurier und der im Ratssaale zerrissenen Depesche zu plaudern, mußte es doch kein geringes Aufsehen erregen, als sich plötzlich die Schweine des löblichen Rates, mit einem L gebrandmarkt, durch die Stadt verbreiteten, dann in einer anderen Gasse die Luft vom aufsteigenden Mehlstaube der herabfallenden, platzenden Säcke verfinstert ward und zuletzt die Gänsescharen des Stadt-und Platzmajorats schreiend über alle Dachgiebeln flogen. Niemand konnte begreifen, woher diese Wunder alle in den verschiedensten Gegenden zu gleicher Zeit? Einige Politiker argwöhnten, es möge von Anhängern des verurteilten Staatsbaumeisters ein allgemeiner Aufruhr beabsichtigt sein. Der Stadtschreiber Mucker aber soll zu verstehen gegeben haben, er würde glauben, Hans Dampf sei wieder in allen Gassen rege, wenn er ihn nicht in demselben Augenblicke erst versiegelt und vernagelt hätte, da Schweine, Mehlsäcke und Gänse ins Publikum kamen.

Inzwischen verschlang der Gedanke an die große Sache des Vaterlandes, besonders an die erwartete feierliche Hinrichtung jede Rücksicht auf geringere Gegenstände, besonders da schon folgenden Morgens der fürstlich luchsensteinische Kurier im vollsten Galopp mit einer neuen Depesche zur Stadt hereingesprengt kam. Sogleich ertönte die Ratsglocke. Die Bürgermeister und Ratsherren eilten in Mänteln und Degen zur außerordentlichen Sitzung mit Gebärden voll Tiefsinns und Ernstes. Viel Volks lief neugierig auf dem öffentlichen Platz zusammen, noch mehr aber, als eine fürstlich luchsensteinische Kutsche kam, um den Gefangenen abzuholen.

Die Sitzung ward eröffnet. Der Bürgermeister setzte die Brille auf, erbrach den großen Brief in Gegenwart der Versammlung und hob nun mit lauter Stimme zu lesen an:

»Wir Nikodemus, Fürst zu Luchsenstein, Graf zu Krähenburg, Baron zu Dachsfelden, Herr zu Sauwinkel und Fuchsbergen usw. usw. entbieten den wohlweisen Bürgermeistern und Rat der löblichen Stadt und Republik Lalenburg unseren gnädigen Gruß zuvor. Ehrenfeste, Liebe, Getreue! Als wir mißfällig vernommen, daß unser an euch erlassenes Missiv verloren gegangen, welches von Wort zu Wort also gelautet hat: ›Dieweil einer eurer trefflichen Angehörigen, genannt Hans Dampf, zu einem unserer Hofjäger geredet, wie er sich unterfangen wolle, jeden Hund vernünftig sprechen zu lehren, und uns dies besonderermaßen wohlgefallen, so soll uns kein Preis zu teuer sein, wenn er unserm Leibhund Fidele die menschliche Sprache beibringen kann, als welche demselben, ungeachtet seines natürlichen Verstandes, sehr schwer fällt, wiewohl er schon dermalen das Deutsche, zum Teil auch Französische und sogar Italienische versteht, ohne es jedoch selbst zu reden. Wir ernennen den quästionierlichen Hans Dampf einstweilen zu unserem Hofrat, weisen ihm tausend Gulden zur ersten Einrichtung an und werden diesen guten Kopf, wenn er reüssiert, zum Erzieher unserer Prinzen machen, sobald dieselben erwachsen sein werden.‹ Als erwarten wir von euch, Ehrenfeste, Liebe, Getreue, ihr werdet diesen unsern Hofrat Hans Dampf unverzüglich an uns anhersenden ohne Verzug. Damit geschieht unser gnädiger Wille.«

Mit den sichtbarsten Zeichen des Erstaunens hörte die löbliche Ratsversammlung diese Vorlesung an. Kein einziger, vom Stadtschreiber und ersten Ratsherrn an bis zum Weibel an der Tür war da, der nicht das Maul noch zwei Minuten lang aufgesperrt behielt, auch da nichts mehr zu hören war. Selbst der regierende Bürgermeister, nachdem er Brief und Brille vor sich niedergelegt, behielt vom Vorlesen den Mund offen und starrte außer sich in die leere Luft hin.

Einige verwunderten sich über den Leibhund Sr. Durchlaucht, der schon in drei Sprachen bewandert war, andere über Hans Dampfs bisher unbekannt gewesene Geschicklichkeit, Tiere reden zu lehren; andere betrachteten mit Ehrfurcht die Würden und Ämter, zu welchen der Staatsbaumeister plötzlich emporsteigen sollte, da man gerade das Gegenteil erwartet hatte; andere zitterten nun vor der Rache des großen Mannes, der aus dem Gefängnis in die Nähe eines Thrones versetzt, Stadt und Republik Lalenburg in seiner Gewalt hatte.