Auf einmal stand er vor seinem Freunde still
und klopfte ihm auf die Schulter.
»Doktor, ich habe einen Gedanken: Ich kann dich nicht so sehen, du
bist ja gar nicht mehr der alte. Du mußt ein wenig aus dir heraus, und
weißt du, wie? Du sollst die Reise unternehmen und das Kind Heidi auf
seiner Alp besuchen in unser aller Namen.«
Der Herr Doktor war sehr überrascht von dem Vorschlage und wollte sich
dagegen wehren, aber Herr Sesemann ließ ihm keine Zeit. Er war so
erfreut und erfüllt von seiner neuen Idee, daß er den Freund unter
den Arm faßte und nach dem Zimmer seines Töchterchens hinüberzog.
Der gute Herr Doktor war für die kranke Klara immer eine erfreuliche
Erscheinung, denn er hatte sie von jeher mit einer großen
Freundlichkeit behandelt und ihr jedesmal, wenn er kam, etwas Lustiges
und Erheiterndes zu erzählen gewußt. Warum er das jetzt nicht mehr
konnte, wußte sie wohl und hätte so gern ihn wieder froh gemacht. Sie
streckte ihm gleich die Hand entgegen, und er setzte sich zu ihr hin.
Herr Sesemann rückte seinen Stuhl auch heran, und indem er Klara bei
der Hand faßte, fing er an von der Schweizerreise zu reden und wie er
sich selbst darauf gefreut hatte. Über den Hauptpunkt aber, daß sie
nun unmöglich mehr stattfinden könnte, glitt er eilig hinweg, denn
er fürchtete sich ein wenig vor den kommenden Tränen. Dann ging
er schnell auf den neuen Gedanken über und machte Klara darauf
aufmerksam, wie wohltätig es für ihren guten Freund wäre, wenn er
diese Erholungsreise unternehmen würde.
Die Tränen waren wirklich aufgestiegen und schwammen in den blauen
Augen, wie sehr sich auch Klara Mühe gab, sie niederzudrücken, denn
sie wußte, wie ungern der Papa sie weinen sah. Aber es war auch hart,
daß nun alles aus sein sollte, und den ganzen Sommer hindurch war die
Aussicht auf die Reise zum Heidi ihre einzige Freude und ihr Trost
gewesen in all den langen, einsamen Stunden, die sie durchlebt hatte.
Aber Klara war nicht gewohnt zu markten, sie wußte recht gut, daß der
Papa ihr nur versagte, was zum Bösen führen würde und darum nicht sein
durfte. Sie schluckte ihre Tränen hinunter und wandte sich nun der
einzigen Hoffnung zu, die ihr blieb. Sie nahm die Hand ihres guten
Freundes und streichelte sie und bat flehentlich:
»O bitte, Herr Doktor, nicht wahr, Sie gehen zum Heidi, und dann
kommen Sie, um mir alles zu erzählen, wie es ist dort oben und was das
Heidi macht und der Großvater und der Peter und die Geißen, ich kenne
sie alle so gut! Und dann nehmen Sie mit, was ich dem Heidi schicken
will, ich habe schon alles ausgedacht und auch etwas für die
Großmutter. Bitte, Herr Doktor, tun Sie's doch; ich will auch gewiß
unterdessen Fischtran nehmen, soviel Sie nur wollen.«
Ob dieses Versprechen der Sache den Ausschlag gab, kann man nicht
wissen, aber es ist anzunehmen, denn der Herr Doktor lächelte und
sagte: »Dann muß ich ja wohl gehen, Klärchen, so wirst du uns einmal
rund und fest, wie wir dich haben wollen, Papa und ich. Und wann muß
ich denn reisen, hast du das schon bestimmt?«
»Am liebsten gleich morgen früh, Herr Doktor«, entgegnete Klara.
»Ja, sie hat recht«, fiel hier der Vater ein; »die Sonne scheint, der
Himmel ist blau, es ist keine Zeit zu verlieren, für jeden solchen Tag
ist es schade, den du noch nicht auf der Alp genießen kannst.«
Der Herr Doktor mußte ein wenig lachen: »Nächstens wirst du mir
vorwerfen, daß ich noch da bin, Sesemann; so muß ich wohl machen, daß
ich fortkomme.«
Aber Klara hielt den Aufstehenden fest; erst mußte sie ihm ja
noch alle Aufträge an das Heidi übergeben und ihm noch so vieles
anempfehlen, das er recht betrachten und ihr dann davon erzählen
sollte. Die Sendung an das Heidi konnte ihm erst später zugeschickt
werden, denn Fräulein Rottenmeier mußte erst alles verpacken helfen;
sie war aber eben auf einer ihrer Wanderungen durch die Stadt
begriffen, von denen sie nicht so schnell zurückkehrte.
Der Herr Doktor versprach, alles genau auszurichten, die Reise, wenn
nicht am Morgen früh, so doch womöglich noch im Laufe des folgenden
Tages anzutreten und dann bei seiner Heimkehr getreulich Bericht zu
erstatten über alles, was er gesehen und erlebt haben würde.
Die Diener eines Hauses haben oft eine merkwürdige Gabe, die Dinge zu
erfassen, die im Hause ihrer Herren vor sich gehen, lange bevor diese
dazu kommen, ihnen Mitteilung davon zu machen. Sebastian und Tinette
mußten diese Gabe in hohem Grade besitzen, denn eben, als der Herr
Doktor, von Sebastian begleitet, die Treppe hinunterging, trat Tinette
ins Zimmer der Klara ein, die nach dem Mädchen geschellt hatte.
»Holen Sie diese Schachtel voll ganz frischer, weicher Kuchen, wie
wir sie zum Kaffee haben, Tinette«, sagte Klara und deutete auf die
Schachtel hin, die schon lange bereitgestanden hatte. Tinette erfaßte
das bezeichnete Ding an einer Ecke und ließ es verächtlich an ihrer
Hand baumeln. Unter der Türe sagte sie schnippisch:
»Es ist wohl der Mühe wert.«
Als der Sebastian unten mit gewohnter Höflichkeit die Türe aufgemacht
hatte, sagte er mit einem Bückling:
»Wenn der Herr Doktor wollten so freundlich sein und dem Mamsellchen
auch einen Gruß vom Sebastian bestellen.«
»Ah, sieh da, Sebastian«, sagte der Herr Doktor freundlich; »so wissen
Sie denn auch schon, daß ich reise?«
Sebastian mußte ein wenig husten.
»Ich bin… ich habe… ich weiß selbst nicht mehr recht… ach ja,
jetzt erinnere ich mich: Ich bin eben zufällig durch das Eßzimmer
gegangen, da habe ich den Namen des Mamsellchens aussprechen gehört,
und wie es so geht, man hängt dann so einen Gedanken an den anderen an
und so… und in der Weise…«
»Jawohl, jawohl«, lächelte der Herr Doktor, »und je mehr Gedanken
einer hat, je mehr wird er inne. Auf Wiedersehen, Sebastian, der Gruß
wird bestellt.«
Jetzt wollte der Herr Doktor gerade durch die offene Haustür enteilen,
aber er traf auf ein Hindernis: Der starke Wind hatte Fräulein
Rottenmeier verhindert, ihre Wanderung weiter fortzusetzen; eben
war sie zurückgekehrt und wollte ihrerseits durch die offene Tür
eintreten. Der Wind hatte ihr weites Tuch, in das sie sich gehüllt
hatte, aber dergestalt aufgebläht, daß es gerade so anzusehen war, als
habe sie die Segel aufgespannt. Der Herr Doktor wich augenblicklich
zurück. Aber gegen diesen Mann hatte Fräulein Rottenmeier von jeher
eine besondere Anerkennung und Zuvorkommenheit an den Tag gelegt. Auch
sie wich mit ausgesuchter Höflichkeit zurück, und eine Weile standen
die beiden mit rücksichtsvoller Gebärde da und machten einander
gegenseitig Platz. Jetzt aber kam ein so starker Windstoß, daß
Fräulein Rottenmeier auf einmal mit vollen Segeln gegen den Doktor
heranflog. Er konnte eben noch ausweichen; die Dame aber wurde
noch ein gutes Stück über ihn hinausgetrieben, so daß sie wieder
zurückkehren mußte, um nun den Freund des Hauses mit Anstand zu
begrüßen. Der gewalttätige Vorgang hatte sie ein wenig verstimmt, aber
der Herr Doktor hatte eine Art und Weise, die ihr gekräuseltes Gemüt
bald glättete und eine sanfte Stimmung darüber verbreitete. Er teilte
ihr seinen Reiseplan mit und bat sie in der einnehmendsten Weise,
ihm die Sendung an das Heidi so zu verpacken, wie nur sie zu packen
verstehe. Dann empfahl sich der Herr Doktor.
Klara erwartete, daß sie erst einige Kämpfe mit Fräulein Rottenmeier
zu bestehen haben würde, bevor diese ihre Zustimmung zum Absenden all
der Gegenstände geben werde, die Klara für das Heidi bestimmt hatte.
Aber diesmal hatte sie sich getäuscht: Fräulein Rottenmeier war
ausnehmend gut gelaunt. Sogleich räumte sie alles weg, was auf dem
großen Tische lag, um die Dinge alle, die Klara zusammengebracht
hatte, darauf auszubreiten und dann vor ihren Augen die Sendung zu
verpacken. Es war keine leichte Arbeit, denn die Gegenstände, die
da zusammengerollt werden sollten, waren vielgestaltig. Erst kam
der kleine dicke Mantel mit der Kapuze, den Klara für das Heidi
ausgesonnen hatte, damit es im kommenden Winter die Großmutter
besuchen könnte, wann es wollte, und nicht warten müßte, bis der
Großvater kommen konnte und es dann in den Sack eingewickelt werden
mußte, damit es nicht erfriere. Dann kam ein dickes, warmes Tuch für
die alte Großmutter, damit sie sich darin einhülle und nicht frieren
müsse, wenn der Wind wieder so schaurig um die Hütte klappern würde.
Dann kam die große Schachtel mit den Kuchen; die war auch für die
Großmutter bestimmt, daß sie zu ihrem Kaffee auch einmal etwas anderes
als ein Brötchen zu essen habe.
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