Groß und
still schauten die hohen Felsenberge herüber, und das ganze weite Tal
hinab lag alles wie im stillen Frieden. Nur dann und wann schallte das
frohe Jauchzen eines Hirtenbuben durch die Luft, und leise gab das
Echo die Töne in den Felsen wieder.
Der Morgen war dahin, die Kinder wußten nicht, wie, und schon kam der
Großvater mit der dampfenden Schüssel daher, denn er sagte, mit dem
Töchterchen bleibe man nun draußen, solang ein Lichtstrahl am Himmel
sei. So wurde das Mittagsmahl wie gestern vor der Hütte aufgestellt
und mit Vergnügen eingenommen. Dann rollte das Heidi den Stuhl samt
der Klara unter die Tannen hinüber, denn die Kinder hatten ausgemacht,
den Nachmittag wollten sie dort in dem schönen Schatten sitzen
und einander alles erzählen, was sich zugetragen, seit das Heidi
Frankfurt verlassen hatte. Wenn auch da alles im gewohnten Geleise
weitergegangen war, so hatte Klara doch allerlei Besonderes zu
berichten von den Menschen, die im Hause Sesemann lebten und die dem
Heidi ja so gut bekannt waren.
So saßen die Kinder nebeneinander unter den alten Tannen, und je
eifriger sie im Erzählen wurden, desto lauter pfiffen die Vögel oben
in den Zweigen, denn das Geplauder da unten freute sie, und sie
wollten auch mithalten. So flog die Zeit dahin, und unversehens war
es Abend geworden, und schon kam das Geißenheer heruntergestürmt, der
Anführer hintendrein mit Stirnrunzeln und grimmiger Miene.
»Gute Nacht, Peter!« rief ihm das Heidi zu, als es sah, daß er nicht
im Sinne hatte stillzustehen.
»Gute Nacht, Peter!« rief auch Klara freundlich hinüber.
Er gab keinen Gruß zurück und jagte schnaubend die Geißen weiter.
Als Klara jetzt sah, wie der Großvater das saubere Schwänli zum
Melken nach dem Stalle führte, da ergriff sie auf einmal ein solches
Verlangen nach der gewürzigen Milch, daß sie es fast nicht erwarten
konnte, bis der Großvater damit kommen würde. Sie mußte selbst
erstaunen darüber.
»Das ist aber einmal kurios, Heidi«, sagte sie. »Solange ich weiß,
habe ich nur gegessen, weil ich mußte, und alles, was ich bekam,
schmeckte nach Fischtran, und tausendmal habe ich gedacht: Wenn man
nur nie essen müßte! Und jetzt kann ich es fast nicht erwarten, bis
der Großvater kommt mit der Milch.«
»Ja, ich weiß schon, was das ist«, entgegnete das Heidi ganz
verständnisvoll, denn es gedachte der Tage in Frankfurt, da ihm alles
im Halse steckenblieb und nicht hinunter wollte. Klara aber begriff
die Sache doch nicht. Sie hatte aber, solange sie lebte, noch nie
einen Tag lang in der freien Luft gesessen wie heute, und nun gar in
dieser hohen, belebenden Bergluft.
Als der Großvater mit seinen Schüsselchen herankam, erfaßte Klara
schnell dankend das ihrige, und in durstigen Zügen trank sie
hintereinander und war diesmal noch vor dem Heidi zu Ende.
»Darf ich noch ein wenig haben?« fragte sie, dem Großvater das
Schüsselchen hinhaltend.
Er nickte wohlgefällig, nahm auch Heidis Gefäß wieder in Empfang
und ging zur Hütte zurück. Als er wiederkam, brachte er auf jedem
Schüsselchen einen hohen Deckel mit, der war aber von anderem Stoff,
als die Deckel gewöhnlich sind.
Der Großvater hatte am Nachmittag einen Gang nach dem grünen Maiensäß
hinüber gemacht, zu der Sennhütte, wo die süße, hellgelbe Butter
gemacht wird. Von dort hatte er einen schönen runden Ballen
mitgebracht. Jetzt hatte er zwei feste Schnitten Brot genommen und die
süße Butter schön dick daraufgestrichen. Diese sollten nun die Kinder
zu ihrem Nachtessen haben. Gleich bissen auch alle beide so tief in
die appetitlichen Schnitten hinein, daß der Großvater stehenblieb und
zuschaute, wie das weitergehen würde, denn das gefiel ihm.
Als Klara nachher auf ihrem Lager wieder nach den schimmernden Sternen
schauen wollte, ging es ihr wie dem Heidi an ihrer Seite: Die Augen
fielen ihr auf der Stelle zu, und es kam ein so fester, gesunder
Schlaf über sie, wie sie ihn niemals gekannt hatte.
In dieser erfreulichen Weise verging auch der folgende Tag und dann
noch einer, und dann folgte eine große Überraschung für die Kinder. Es
kamen zwei kräftige Träger den Berg heraufgestiegen; jeder trug auf
seinem Reff ein hohes Bett, fertig aufgerüstet in der Bettschaft,
beide ganz gleich bedeckt mit einer weißen Decke, sauber und nagelneu.
Auch hatten die Männer einen Brief von der Großmama abzugeben. Da
stand darin, daß diese Betten für Klara und Heidi seien, daß das Heu-
und Deckenlager nun aufgehoben werden solle und daß von nun an das
Heidi immer in einem richtigen Bette schlafen müsse, denn im Winter
solle das eine der beiden ins Dörfli heruntergeschafft werden, das
andere aber oben bleiben, damit Klara es immer vorfinde, wenn sie
wiederkomme. Dann lobte die Großmama die Kinder um ihrer langen Briefe
willen und ermunterte sie, täglich so fortzufahren, damit sie immer
alles mitleben könne, als ob sie bei ihnen wäre.
Der Großvater war hineingegangen, hatte den Inhalt von Heidis Lager
auf den großen Heuhaufen geworfen und die Decken weggelegt. Nun kam
er wieder, um mit Hilfe der Männer die beiden Betten dort hinauf zu
transportieren. Dann rückte er sie hart aneinander, damit von beiden
Kopfkissen aus die Aussicht durch das Loch dieselbe bliebe, denn er
kannte die Freude der Kinder an dem Morgen- und Abendschein, der da
hereinglänzte.
Unterdessen saß die Großmama unten im Bade Ragaz und war hocherfreut
über die vortrefflichen Nachrichten, die täglich von der Alp zu ihr
heruntergelangten.
Das Entzücken über ihr neues Leben steigerte sich bei Klara noch
von Tag zu Tag, und sie wußte nicht genug zu sagen von der Güte und
sorglichen Pflege des Großvaters und wie lustig und kurzweilig das
Heidi sei, noch viel mehr als in Frankfurt, und wie sie jeden Morgen
beim Erwachen immer zuerst denke: O gottlob; ich bin noch auf der Alp!
Über diese ausnehmend erfreulichen Berichte war die Großmama jeden Tag
aufs neue froh. Sie fand auch, da alles so stand, so könne sie ihren
Besuch auf der Alp gar wohl noch ein wenig verschieben, was ihr nicht
unlieb war, denn der Ritt den steilen Berg hinauf und wieder herunter
war ihr doch etwas beschwerlich vorgekommen.
Der Großvater mußte eine ganz besondere Teilnahme für seinen Pflegling
gefaßt haben, denn es verging kein Tag, an welchem er nicht irgend
etwas Neues zu seiner Kräftigung ausdachte. Er machte jetzt jeden
Nachmittag weitere Gänge in die Felsen hinauf, immer höher, und
jedesmal brachte er ein Bündelchen mit zurück, das duftete schon von
weitem durch die Luft wie gewürzige Nelken und Thymian, und kehrten
die Geißen am Abend heim, so fingen sie alle zu meckern und zu
springen an und wollten alle miteinander in den Stall eindringen, wo
das Bündelchen lag, denn sie kannten den Geruch. Aber der Öhi hatte
die Tür gut zugemacht, denn er kletterte den seltenen Kräuterchen
nicht nach, hoch an die Felsen hinauf, damit die Geißenschar ohne
Mühe zu einer guten Mahlzeit komme. Die Kräutlein waren alle für das
Schwänli bestimmt, damit es immer noch kräftigere Milch hergebe.
Man konnte auch gut sehen, wie die außerordentliche Pflege bei ihm
anschlug, denn es warf den Kopf immer lebendiger in die Höhe und
machte ganz feurige Augen dazu.
So war nun schon die dritte Woche gekommen, seit Klara auf der Alp
war. Seit einigen Tagen hatte der Großvater des Morgens, wenn er sie
heruntertrug, um sie in ihren Stuhl zu setzen, jedesmal gesagt: »Will
das Töchterchen nicht einmal probieren, ein wenig auf dem Boden zu
stehen?« Klara hatte dann wohl versucht, ihm den Gefallen zu tun, aber
sie hatte immer gleich gesagt: »Oh, 's tut zu weh!« und hatte sich
an ihn festgeklammert; er ließ sie aber jeden Tag ein wenig länger
probieren.
Ein so schöner Sommer war seit Jahren nicht auf der Alp gewesen. Jeden
Tag zog die strahlende Sonne durch den wolkenlosen Himmel hin, und
alle kleinen Blumen machten ihre Kelche weit auf und glühten und
dufteten zu ihr empor, und am Abend warf sie ihr Purpur- und
Rosenlicht auf die Felsenhörner und das Schneefeld hinüber und tauchte
dann in ein golden flammendes Meer hinab. Davon erzählte das Heidi
seiner Freundin Klara immer wieder, denn nur oben auf der Weide konnte
man das alles so recht sehen, und von der Stelle oben am Abhange
erzählte es mit besonderem Feuer, wie dort jetzt die großen Scharen
der glitzernden, goldenen Weideröschen stehen und Blauglöckchen so
viele, daß man meine, dort sei das Gras blau geworden, und daneben
ganze Büsche von den braunen Kolbenblümchen, die so schön riechen, daß
man nur auf den Boden sitzen müsse zu ihnen und gar nicht mehr fort
wolle.
Eben jetzt, unter den Tannen sitzend, hatte das Heidi aufs neue von
den Blumen dort oben und der Abendsonne und den leuchtenden Felsen
erzählt, und dabei war ein solches Verlangen in ihm aufgestiegen,
wieder einmal dorthin zu kommen, daß es mit einemmal aufsprang und
davonrannte, dem Großvater zu, der im Schopf auf seinem Schnitzstuhl
saß.
»O Großvater«, rief es schon von weitem hinüber, »kommst du morgen mit
uns auf die Weide? Oh, jetzt ist es so schön dort oben!«
»Es bleibt dabei«, sagte der Großvater zustimmend, »aber dann muß mir
das Töchterchen auch einen Gefallen tun: Es muß mir heut abend das
Stehen noch einmal recht probieren.«
Frohlockend kam das Heidi mit seiner Nachricht zu Klara zurück, und
diese versprach gleich, sovielmal versuchen zu wollen, auf ihren Füßen
zu stehen, als der Großvater nur wolle, denn sie freute sich ganz
ungeheuer, diese Reise nach der schönen Geißenweide hinauf zu machen.
Das Heidi war so voller Jubel, daß es gleich dem Peter entgegenrief,
sobald es ihn am Abend beim Herunterkommen erblickte:
»Peter! Peter! Morgen kommen wir auch mit und bleiben den ganzen Tag
dort oben.«
Als Antwort brummte der Peter wie ein gereizter Bär und schlug mit
Wut nach dem unschuldigen Distelfink, der neben ihm trabte. Aber der
flinke Distelfink hatte die Bewegung zur rechten Zeit wahrgenommen. Er
machte einen hohen Satz über das Schneehöppli weg, und der Hieb sauste
in die Luft hinaus.
Klara und Heidi bestiegen heute voll herrlicher Erwartungen ihre zwei
schönen Betten, und so erfüllt waren sie von ihren Plänen für morgen,
daß sie beschlossen, die ganze Nacht wach zu bleiben und immerfort
davon zu sprechen, bis sie wieder aufstehen durften. Kaum lagen sie
aber auf ihren guten Kissen, so hörten die Gespräche plötzlich auf,
und Klara sah im Traume ein großes, großes Feld vor sich, das war ganz
himmelblau anzusehen, so dicht besät war es von lauter Glockenblumen;
und das Heidi hörte den Raubvogel oben in den Höhen, wie er
herunterschrie: »Kommt! Kommt! Kommt!«
Es geschieht, was keiner erwartet hat
In aller Frühe trat der Öhi am andern Morgen aus der Hütte und schaute
ringsum, wie der Tag sich gestalten wolle.
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