Der Stuhl wurde hineingestoßen und die hohen Bretter
wieder an ihre Stelle gebracht, wenn auch nicht festgemacht. Das
Heidi kam eben an, nachdem der Großvater Klara drinnen in ihren Stuhl
gesetzt, dann die Bretter weggenommen hatte und nun mit ihr aus dem
Schopf in den Morgensonnenschein herausgefahren kam. Mitten auf dem
Platze ließ er den Stuhl stehen und ging dem Geißenstall zu. Das Heidi
sprang an Klaras Seite.
Der frische Morgenwind wehte um die Gesichter der Kinder, und ein
würziger Tannenduft kam mit jedem neuen Windeswehen herüber und
durchströmte die sonnige Morgenluft. Klara zog tiefe Züge ein und
lehnte sich in ihren Stuhl zurück, in einem Gefühl des Wohlseins, wie
sie es nie empfunden hatte.
Noch nie in ihrem Leben hatte sie ja auch frische Morgenluft draußen
in der freien Natur eingeatmet, und nun wehte die reine Alpenluft um
sie so kühl und erfrischend, daß jeder Atemzug ein Genuß war. Dazu
der helle, süße Sonnenschein, der gar nicht heiß war hier oben und so
lieblich warm auf ihren Händen lag und an dem trockenen Grasboden zu
ihren Füßen. Daß es so auf der Alp sein könnte, das hatte sich Klara
gar nicht vorstellen können.
»O Heidi, wenn ich nur immer, immer hier oben bei dir bleiben könnte!«
sagte sie jetzt, sich ganz wohlig hin und her wendend in ihrem Stuhl,
um so recht von allen Seiten Luft und Sonne einzutrinken.
»Jetzt siehst du, daß es so ist, wie ich dir gesagt habe«, entgegnete
das Heidi erfreut, »daß es am schönsten auf der ganzen Welt beim
Großvater auf der Alm ist.« Eben trat dieser aus dem Stalle heraus
zu den Kindern heran. Er brachte zwei Schüsselchen voll schäumender,
schneeweißer Milch und reichte eins der Klara, das andere dem Heidi.
»Das wird dem Töchterchen wohltun«, sagte er, Klara zunickend. »Sie
ist vom Schwänli, die gibt Kraft. Zum Wohlsein! Nur zu!« Klara hatte
noch nie Milch von einer Geiß getrunken, sie hatte erst zur Sicherheit
ein wenig daran riechen müssen. Als sie nun aber sah, mit welcher
Begier das Heidi seine Milch heruntertrank, ohne ein einziges Mal
abzusetzen - so erstaunlich gut schmeckte sie ihm -, da setzte Klara
auch an und trank und trank, und wahrhaftig, sie war so süß und
kräftig, als wäre Zucker und Zimmet darin, und Klara trank zu, bis
nichts mehr im Schüsselchen war.
»Morgen nehmen wir zwei«, sagte der Großvater, der mit Befriedigung
zugesehen hatte, wie Klara Heidis Beispiel gefolgt war.
Jetzt erschien der Peter mit seiner Schar, und während das Heidi
durch die allseitigen Morgenbegrüßungen gleich mitten in die Herde
hineingedrängt wurde, nahm der Öhi den Peter ein wenig auf die Seite,
damit dieser verstehen könne, was er ihm zu sagen hatte, denn die
Geißen meckerten immer, eine stärker als die andere, vor lauter Freude
und Freundschaftsbezeugungen, sobald sie das Heidi in ihrer Mitte
hatten.
»Jetzt hör zu und paß auf«, sagte der Öhi. »Von heut an lässest du
dem Schwänli seinen Willen. Es hat die Fühlung, wo die kräftigsten
Kräutlein sind; also wenn es hinauf will, so gehst du nach, den
anderen tut's ja auch gut, und wenn es höher will, als du sonst mit
ihnen gehst, so gehst du wieder und hältst es nicht zurück, hörst du!
Wenn du auch ein wenig klettern mußt, schad't nichts, du gehst, wo es
will, denn in dieser Sache ist es vernünftiger als du, und es muß nur
noch vom Besten bekommen, daß es eine Prachtmilch gibt. Warum guckst
du dort hinüber, wie wenn du einen verschlucken wolltest? Es wird dir
niemand im Wege sein. So, jetzt vorwärts, und denk daran!«
Der Peter war gewohnt, dem Öhi aufs Wort zu folgen. Er trat gleich
seinen Marsch an; man konnte aber sehen, daß er noch etwas im
Hinterhalt hatte, denn er drehte immer den Kopf um und rollte mit den
Augen. Die Geißen folgten und drängten das Heidi noch eine Strecke mit
vorwärts. Das war dem Peter eben recht. »Du mußt mit«, rief er jetzt
drohend in den Geißenrudel hinein, »du mußt mit, wenn man dem Schwänli
nachmuß.«
»Nein, ich kann nicht«, rief das Heidi zurück, »und ich kann jetzt
lange, lange nicht mitkommen, solange die Klara bei mir ist. Aber
einmal kommen wir dann miteinander hinauf, der Großvater hat es uns
versprochen.«
Unter diesen Worten hatte das Heidi sich aus den Geißen herausgewunden
und sprang nun zu Klara zurück. Jetzt machte der Peter mit beiden
Fäusten eine so drohende Gebärde gegen den Rollstuhl hinunter, daß die
Geißen auf die Seite sprangen. Er sprang aber auf der Stelle nach und
ohne Aufenthalt eine ganze Strecke weit hinauf, bis er außer Sicht
war, denn er dachte, der Öhi könnte ihn etwa gesehen haben, und er
wollte lieber nicht wissen, was für einen Eindruck das Fausten dem Öhi
gemacht habe.
Klara und Heidi hatten für heute so viel im Sinn, daß sie gar nicht
wußten, wo anfangen. Das Heidi schlug vor, zuerst den Brief an die
Großmama zu schreiben, den hatten sie ja bestimmt versprochen, und so
für jeden Tag einen neuen. Die Großmama war doch ihrer Sache nicht so
ganz sicher, wie es in die Länge da droben der Klara behagen und auch,
wie es mit ihrer Gesundheit gehen würde, und so hatte sie den Kindern
das Versprechen abgenommen, ihr jeden Tag einen Brief zu schreiben
und alles zu erzählen, was sie erlebten. So konnte die Großmama auch
sogleich wissen, wenn sie oben nötig werden sollte, und bis dahin
ruhig unten bleiben.
»Müssen wir in die Hütte hinein zum Schreiben?« fragte Klara, die wohl
dafür war, der Großmama Bericht zu geben; aber da draußen war es ihr
so wohl, daß sie gar nicht weg mochte.
Aber das Heidi wußte sich einzurichten. Augenblicklich rannte es in
die Hütte hinein und kam mit seinen sämtlichen Schulsachen und dem
niedrigen Dreibeinstühlchen beladen wieder zurück. Nun legte es sein
Lesebuch und Schreibheft der Klara auf den Schoß, daß sie darauf
schreiben konnte, und es selbst setzte sich an die Bank hin auf sein
Stühlchen, und nun begannen sie beide der Großmama zu erzählen.
Aber nach jedem Satze, den Klara geschrieben hatte, legte sie ihren
Bleistift wieder hin und schaute um sich. Es war gar zu schön. Der
Wind war nicht mehr so kühl; nur lieblich fächelnd wehte er um ihr
Gesicht, und drüben in den Tannen flüsterte er leise. In der klaren
Luft tanzten und summten die kleinen, fröhlichen Mücken, und weit
umher lag eine große Stille auf dem ganzen sonnigen Gefilde.
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