Es
kamen zwei kräftige Träger den Berg heraufgestiegen; jeder trug auf
seinem Reff ein hohes Bett, fertig aufgerüstet in der Bettschaft,
beide ganz gleich bedeckt mit einer weißen Decke, sauber und nagelneu.
Auch hatten die Männer einen Brief von der Großmama abzugeben. Da
stand darin, daß diese Betten für Klara und Heidi seien, daß das Heu-
und Deckenlager nun aufgehoben werden solle und daß von nun an das
Heidi immer in einem richtigen Bette schlafen müsse, denn im Winter
solle das eine der beiden ins Dörfli heruntergeschafft werden, das
andere aber oben bleiben, damit Klara es immer vorfinde, wenn sie
wiederkomme. Dann lobte die Großmama die Kinder um ihrer langen Briefe
willen und ermunterte sie, täglich so fortzufahren, damit sie immer
alles mitleben könne, als ob sie bei ihnen wäre.
Der Großvater war hineingegangen, hatte den Inhalt von Heidis Lager
auf den großen Heuhaufen geworfen und die Decken weggelegt. Nun kam
er wieder, um mit Hilfe der Männer die beiden Betten dort hinauf zu
transportieren. Dann rückte er sie hart aneinander, damit von beiden
Kopfkissen aus die Aussicht durch das Loch dieselbe bliebe, denn er
kannte die Freude der Kinder an dem Morgen- und Abendschein, der da
hereinglänzte.
Unterdessen saß die Großmama unten im Bade Ragaz und war hocherfreut
über die vortrefflichen Nachrichten, die täglich von der Alp zu ihr
heruntergelangten.
Das Entzücken über ihr neues Leben steigerte sich bei Klara noch
von Tag zu Tag, und sie wußte nicht genug zu sagen von der Güte und
sorglichen Pflege des Großvaters und wie lustig und kurzweilig das
Heidi sei, noch viel mehr als in Frankfurt, und wie sie jeden Morgen
beim Erwachen immer zuerst denke: O gottlob; ich bin noch auf der Alp!
Über diese ausnehmend erfreulichen Berichte war die Großmama jeden Tag
aufs neue froh. Sie fand auch, da alles so stand, so könne sie ihren
Besuch auf der Alp gar wohl noch ein wenig verschieben, was ihr nicht
unlieb war, denn der Ritt den steilen Berg hinauf und wieder herunter
war ihr doch etwas beschwerlich vorgekommen.
Der Großvater mußte eine ganz besondere Teilnahme für seinen Pflegling
gefaßt haben, denn es verging kein Tag, an welchem er nicht irgend
etwas Neues zu seiner Kräftigung ausdachte. Er machte jetzt jeden
Nachmittag weitere Gänge in die Felsen hinauf, immer höher, und
jedesmal brachte er ein Bündelchen mit zurück, das duftete schon von
weitem durch die Luft wie gewürzige Nelken und Thymian, und kehrten
die Geißen am Abend heim, so fingen sie alle zu meckern und zu
springen an und wollten alle miteinander in den Stall eindringen, wo
das Bündelchen lag, denn sie kannten den Geruch. Aber der Öhi hatte
die Tür gut zugemacht, denn er kletterte den seltenen Kräuterchen
nicht nach, hoch an die Felsen hinauf, damit die Geißenschar ohne
Mühe zu einer guten Mahlzeit komme. Die Kräutlein waren alle für das
Schwänli bestimmt, damit es immer noch kräftigere Milch hergebe.
Man konnte auch gut sehen, wie die außerordentliche Pflege bei ihm
anschlug, denn es warf den Kopf immer lebendiger in die Höhe und
machte ganz feurige Augen dazu.
So war nun schon die dritte Woche gekommen, seit Klara auf der Alp
war. Seit einigen Tagen hatte der Großvater des Morgens, wenn er sie
heruntertrug, um sie in ihren Stuhl zu setzen, jedesmal gesagt: »Will
das Töchterchen nicht einmal probieren, ein wenig auf dem Boden zu
stehen?« Klara hatte dann wohl versucht, ihm den Gefallen zu tun, aber
sie hatte immer gleich gesagt: »Oh, 's tut zu weh!« und hatte sich
an ihn festgeklammert; er ließ sie aber jeden Tag ein wenig länger
probieren.
Ein so schöner Sommer war seit Jahren nicht auf der Alp gewesen. Jeden
Tag zog die strahlende Sonne durch den wolkenlosen Himmel hin, und
alle kleinen Blumen machten ihre Kelche weit auf und glühten und
dufteten zu ihr empor, und am Abend warf sie ihr Purpur- und
Rosenlicht auf die Felsenhörner und das Schneefeld hinüber und tauchte
dann in ein golden flammendes Meer hinab. Davon erzählte das Heidi
seiner Freundin Klara immer wieder, denn nur oben auf der Weide konnte
man das alles so recht sehen, und von der Stelle oben am Abhange
erzählte es mit besonderem Feuer, wie dort jetzt die großen Scharen
der glitzernden, goldenen Weideröschen stehen und Blauglöckchen so
viele, daß man meine, dort sei das Gras blau geworden, und daneben
ganze Büsche von den braunen Kolbenblümchen, die so schön riechen, daß
man nur auf den Boden sitzen müsse zu ihnen und gar nicht mehr fort
wolle.
Eben jetzt, unter den Tannen sitzend, hatte das Heidi aufs neue von
den Blumen dort oben und der Abendsonne und den leuchtenden Felsen
erzählt, und dabei war ein solches Verlangen in ihm aufgestiegen,
wieder einmal dorthin zu kommen, daß es mit einemmal aufsprang und
davonrannte, dem Großvater zu, der im Schopf auf seinem Schnitzstuhl
saß.
»O Großvater«, rief es schon von weitem hinüber, »kommst du morgen mit
uns auf die Weide? Oh, jetzt ist es so schön dort oben!«
»Es bleibt dabei«, sagte der Großvater zustimmend, »aber dann muß mir
das Töchterchen auch einen Gefallen tun: Es muß mir heut abend das
Stehen noch einmal recht probieren.«
Frohlockend kam das Heidi mit seiner Nachricht zu Klara zurück, und
diese versprach gleich, sovielmal versuchen zu wollen, auf ihren Füßen
zu stehen, als der Großvater nur wolle, denn sie freute sich ganz
ungeheuer, diese Reise nach der schönen Geißenweide hinauf zu machen.
Das Heidi war so voller Jubel, daß es gleich dem Peter entgegenrief,
sobald es ihn am Abend beim Herunterkommen erblickte:
»Peter! Peter! Morgen kommen wir auch mit und bleiben den ganzen Tag
dort oben.«
Als Antwort brummte der Peter wie ein gereizter Bär und schlug mit
Wut nach dem unschuldigen Distelfink, der neben ihm trabte. Aber der
flinke Distelfink hatte die Bewegung zur rechten Zeit wahrgenommen. Er
machte einen hohen Satz über das Schneehöppli weg, und der Hieb sauste
in die Luft hinaus.
Klara und Heidi bestiegen heute voll herrlicher Erwartungen ihre zwei
schönen Betten, und so erfüllt waren sie von ihren Plänen für morgen,
daß sie beschlossen, die ganze Nacht wach zu bleiben und immerfort
davon zu sprechen, bis sie wieder aufstehen durften. Kaum lagen sie
aber auf ihren guten Kissen, so hörten die Gespräche plötzlich auf,
und Klara sah im Traume ein großes, großes Feld vor sich, das war ganz
himmelblau anzusehen, so dicht besät war es von lauter Glockenblumen;
und das Heidi hörte den Raubvogel oben in den Höhen, wie er
herunterschrie: »Kommt! Kommt! Kommt!«
Es geschieht, was keiner erwartet hat
In aller Frühe trat der Öhi am andern Morgen aus der Hütte und schaute
ringsum, wie der Tag sich gestalten wolle. Auf den hohen Bergspitzen
lag ein rötlich-goldener Schein; ein frischer Wind fing an, die Äste
der Tannen hin und her zu wiegen; die Sonne wollte kommen.
Eine Weile noch stand der Alte und schaute andächtig zu, wie nach den
hohen Berggipfeln die grünen Hügel golden zu schimmern begannen und
dann aus dem Tale leise die dunkeln Schatten wichen und ein rosiges
Licht hineinfloß und nun Höhen und Tiefen im Morgengolde erglänzten;
die Sonne war gekommen.
Jetzt holte der Öhi den Rollstuhl aus dem Schopf heraus, stellte
ihn, zur Reise gerüstet, vor die Hütte hin und trat dann hinein,
um den Kindern zu sagen, wie schön der Morgen erwacht sei, und sie
herauszuholen.
Eben jetzt kam der Peter herangestiegen. Seine Geißen kamen nicht
zutraulich wie gewohnt an seiner Seite und nahe vor und hinter ihm den
Berg herauf; sie schossen scheu umher, dahin und dorthin, denn der
Peter hieb alle Augenblicke ohne jede Veranlassung um sich wie ein
Wütender, und wo er traf, tat es nicht wohl. Der Peter war auf dem
höchsten Punkt des Zornes und der Erbitterung angelangt. Seit Wochen
hatte er nie mehr das Heidi für sich gehabt, so wie er's gewohnt war.
Kam er am Morgen von unten herauf, so wurde schon immer das fremde
Kind in seinem Stuhle herausgetragen, und das Heidi gab sich mit ihm
ab. Kam er am Abend von oben herunter, so stand noch der Rollstuhl mit
seiner Inhaberin unter den Tannen, und das Heidi machte sich mit ihr
zu schaffen. Nie war es noch zur Weide hinaufgekommen den ganzen
Sommer, und nun heute wollte es kommen, aber mitsamt dem Stuhle und
der Fremden darin und wollte die ganze Zeit nur mit dieser sich
abgeben. Das sah der Peter voraus, und das hatte seinen inneren Grimm
auf den höchsten Punkt gebracht. Jetzt erblickte er den Stuhl, der so
stolz da auf seinen Rollen stand, und schaute ihn an wie einen Feind,
der ihm alles zuleide getan hatte und heute noch viel mehr tun wollte.
Der Peter schaute um sich - alles war still, kein Mensch zu sehen. Wie
ein Wilder stürzte er jetzt auf den Stuhl, packte ihn an und stieß ihn
mit so erbitterter Gewalt dem Bergabhange zu, daß der Stuhl förmlich
davonflog und augenblicklich verschwunden war.
Jetzt stürzte der Peter die Alm hinan, als hätte er selber Flügel
bekommen, und er setzte kein einziges Mal ab, bis er oben zu einem
großen Brombeerstrauch gelangte, hinter dem er verschwinden konnte,
denn er begehrte nicht, daß der Öhi ihn erblickte. Er wollte aber
doch gern sehen, was der Stuhl mache, und der Strauch auf dem
Bergvorsprunge war gut gelegen. Der Peter konnte halb verborgen die
Alm hinabschauen und, kam der Öhi zum Vorschein, hurtig sich ganz
verstecken. So tat er, und was erschauten seine Blicke! Weit unten
schon stürzte sein Feind dahin, von immer größerer Gewalt getrieben.
Jetzt überschlug er sich, wieder und wieder, dann machte er einen
hohen Satz, dann schlug es ihn wieder auf die Erde nieder, und
überschlagend rollte er seinem Verderben entgegen.
Schon flogen da und dort die Stücke von ihm weg, Füße, Lehnen,
Polsterfetzen, alles hoch in die Luft geworfen. Der Peter empfand eine
so unbändige Freude an dem Anblick, daß er mit beiden Füßen zugleich
in die Luft springen mußte. Er lachte laut auf, er stampfte vor Wonne,
er sprang in Sätzen im Kreise herum, er kam wieder an denselben
Platz und guckte den Berg hinab. Ein neues Gelächter erscholl, neue
Luftsprünge; der Peter war völlig außer sich vor Vergnügen über diesen
Untergang seines Feindes, denn er sah lauter gute Dinge vor sich, die
nun kommen würden.
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